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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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der Messtischblätter befanden, konnte er die Besitzverhältnisse, den Geldtransfer und alles andere Relevante leicht in Erfahrung bringen.
    Als Hester, erschöpft und verängstigt von den Ereignissen der Nacht, kurz vor elf nach Hause kam, war er erleichtert, sie zu sehen. Sie war später dran als gewöhnlich, und er hatte sich schon Sorgen gemacht. Er bemühte sich, alles, was mit Eisenbahnen zu tun hatte, aus seinen Gedanken zu verbannen, sogar die Tatsache, dass eines der Dokumente seine Unterschrift getragen hatte. Sie war die ganze Nacht auf gewesen und wollte offensichtlich mit ihm über etwas so Dringendes sprechen, dass sie kaum wartete, bis sie sich gesetzt hatte.
    »Nein, danke«, antwortete sie, als er ihr Tee anbot. »William, was in Coldbath vorgeht, ist ganz und gar abscheulich.« Sie erzählte ihm von den jungen Frauen, denen man Geld geliehen hatte und von denen man verlangt hatte, es mit horrenden Zinssätzen zurückzuzahlen, indem sie sich für die speziellen Bedürfnisse von Männern, die Frauen aus guten Familien wollten, prostituierten. »Sie ergötzen sich daran, sie zu erniedrigen. Bei einem gewöhnlichen Straßenmädchen kriegen sie das niemals«, sagte sie wütend. »Wie können wir dagegen angehen?« Sie schaute ihn an, Zorn flammte in ihren Augen, und ihre Wangen waren erhitzt.
    »Ich weiß nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß und hatte dabei ein schlechtes Gewissen. »Hester, seit Menschengedenken werden Frauen auf diese Weise ausgebeutet. Ich weiß nicht, was man, außer ab und zu in einzelnen Fällen, dagegen tun könnte.«
    Eine Niederlage würde sie nicht einstecken. Steif und kerzengerade saß sie auf der Kante ihres Sessels. »Es muss doch etwas geben!«
    »Nein … nicht unbedingt«, verbesserte er sie. »Nicht auf dieser Seite von Gottes Gerechtigkeit. Aber wenn du etwas finden kannst, helfe ich dir, so gut ich kann. In der Zwischenzeit habe ich einen neuen Fall, der möglicherweise mit Betrug beim Bau der Eisenbahn zu tun hat …« Er sah die Ungeduld in ihrem Blick. »Nein, es geht nicht nur um Geld!«, sagte er schnell. »Wenn eine Eisenbahnstrecke auf Land gebaut wird, das auf betrügerische Weise erworben wurde, oder wenn in die eigene Tasche gewirtschaftet wird, ist das gesetzeswidrig und unmoralisch, aber was ist, wenn auf Land gebaut wird, das falsch vermessen wurde, das sich unter dem Gewicht eines Kohlezuges senkt? Oder wenn die Brücken oder Viadukte mit billigem oder unzulänglichem Material gebaut wurden? Dann besteht die Gefahr, dass es zu einem Unfall kommt. Hast du mal darüber nachgedacht, wie viele Tote und Verletzte es bei einem Eisenbahnunglück gibt? Wie viele Menschen passen in einen Passagierzug?«
    Ihre Ungeduld verflüchtigte sich. Sie atmete langsam seufzend aus. »Es könnte Landbetrug sein; davon verstehe ich nichts. Aber die Streckenarbeiter kennen sich mit den Baumaterialien aus. Sie würden niemals mit etwas bauen, was nicht gut genug ist, und sie würden keinesfalls etwas Unzulängliches bauen.« Sie sagte dies mit vollkommener Sicherheit, nicht, als wäre es eine Möglichkeit, sondern eine Tatsache.
    »Woher, um alles in der Welt, willst du das wissen?«, fragte er sie, nicht herablassend, sondern so, als hätte sie darauf eine Antwort. Sie war müde und hatte zu viel Schmerz gesehen, und er wollte ihr nicht noch mehr wehtun.
    »Ich kenne Streckenarbeiter«, erwiderte sie und unterdrückte ein Gähnen.
    »Was?« Er hatte sich sicher verhört. »Woher kennst du denn Streckenarbeiter?«
    »Von der Krim«, sagte sie und schob sich das Haar aus der Stirn. »Als wir im Winter 54/55 bei der Belagerung von Sewastopol neun Meilen vor dem Hafen von Balaklava festsaßen und die einzige Straße so ausgewaschen war, dass man nicht mal mit einem Karren durchkam. Die Soldaten froren sich zu Tode oder starben an der Cholera.« Sie schüttelte ein wenig den Kopf, als schmerzte die Erinnerung heute noch. »Wir hatten nichts zu essen, keine Kleider, keine Medikamente. Aus England haben sie Hunderte von Streckenarbeitern geschickt, um eine Eisenbahnlinie zu bauen. Mitten im russischen Winter arbeiteten sie ohne Hilfe und fluchten und bekämpften einander, und im März war sie fertig. Doppelte Gleisführung, sogar mit Nebenstrecken. Und sie war perfekt.« Sie sah ihn mit einem Funkeln aus Stolz und Trotz an, als wären es ihre eigenen Männer gewesen. Vielleicht hatte sie auch welche gepflegt, wenn sie einen Unfall erlitten oder Fieber gehabt hatten.
    Er versuchte

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