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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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konnte. Da war nur diese namenlose Angst irgendwo im Hintergrund.
    Am folgenden Tag stellte er sich ganz gezielte Fragen. Wer entschied, wo eine Eisenbahntrasse verlief? Welche Vorschriften gab es für den Erwerb von Land? Wer vermaß es? Wer kaufte es? Woher kam das Geld?
    Erst als er all diese Fragen beantwortet hatte, die ihn alle zu der Eisenbahngesellschaft zurückführten, kam ihm der Gedanke, was denn eigentlich mit denjenigen Menschen geschah, die einst in den Häusern gewohnt hatten, die abgerissen wurden, um Platz für den Fortschritt zu machen, oder mit denjenigen, die das Land bebaut hatten, das jetzt zerteilt oder unterhöhlt wurde?
    Die Antworten überraschten ihn nicht, als wären sie ihm von früher her so selbstverständlich wie jetzt dem adrett gekleideten Schreiber, der ihm am Schreibtisch gegenübersaß und bei der Frage etwas perplex dreinschaute.
    »Sie ziehen woandershin, Sir. Dort können sie doch nicht bleiben!«
    »Sind sie denn alle damit einverstanden?«
    »Nein, Sir, nicht stillschweigend«, meinte der Schreiber. »Und bei einem großen Anwesen – von Adligen und dergleichen – muss die Eisenbahnstrecke schon mal außen herumgeführt werden. Notgedrungen. Wer im Parlament oder so die Macht hat, kann dafür sorgen, dass man seinen Besitz nicht antastet. Manche von denen wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, dass ihr Jagdrevier geteilt wird.«
    »Jagd? Etwa auf Moorhühner und Fasane?«, fragte Monk leicht überrascht. Er hatte eher an landwirtschaftlich genutzte Flächen gedacht.
    »Füchse«, korrigierte ihn der Schreiber. »Sie reiten gerne hinter ihnen her und können ihre Pferde einfach nicht dazu bringen, über die Schienen zu springen wie über Hecken.« Das Glitzern in seinen Augen verriet eine gewisse Befriedigung darüber, aber er ging nicht weiter darauf ein. So wie es aussah, hatte er vor langer Zeit gelernt, keine persönliche Meinung zu haben oder sie zumindest nicht kundzutun.
    »Verstehe.«
    »Waren Sie im Ausland, Sir?«
    »Warum?«
    »Hab mich nur gefragt, wieso Sie das alles nicht wissen. War 'ne Menge Wirbel darum in den Zeitungen, vor 'ner Weile schon. Proteste und so. Teufelswerk … die Eisenbahn. Wenn der Herr gewollt hätte, dass wir so reisen und in einer solchen Geschwindigkeit, hätte er uns stählerne Haut und Räder an den Füßen gegeben.«
    »Und wenn er nicht gewollt hätte, dass wir nachdenken, hätte er uns keinen Verstand gegeben«, erwiderte Monk sofort, und als er die Worte aussprach, war ihm, als hörte er ihr Echo, als hätte er sie schon einmal gesagt.
    »Erklären Sie das mal den Pfarrern, deren Kirchen abgerissen und verlegt werden!« Das Gesicht des Schreibers drückte beredt seinen gewaltigen Respekt aus und eine Belustigung, die er mit aller Kraft zu verbergen suchte.
    »Abgerissen und verlegt?« Monk wiederholte die Worte, als könnte er seinen Ohren nicht trauen, und doch wusste er im Grunde, dass es stimmte. Wieder hatte ihn eine Erinnerung gestreift: ein hageres, wutverzerrtes Gesicht über einem Kollar. Dann war es verschwunden. »Ja, selbstverständlich«, sagte er schnell. Er wollte nicht, dass der Mann ihm noch mehr darüber erzählte. Das Erinnerte war unangenehm und schuldbeladen.
    »Natürlich protestieren sie.« Der Schreiber zuckte die Achseln. »Haufenweise. Reden von Mammon und dem Teufel, vom Ruin des Landes und so weiter.« Er kratzte sich am Kopf. »Muss zugeben, dass ich auch nicht allzu freundlich reagieren würde, wenn man die Grabsteine meiner Eltern rausreißen und sie dann unter den Gleisen des Siebzehn-Uhr-vierzig-Zuges von Paddington oder so liegen lassen würde. Ich würde wohl auch mit einem Schild in der Hand da draußen stehen und den Profitmachern mit dem Höllenfeuer drohen.«
    »Hat irgendjemand jemals mehr getan, als zu drohen?« Monk musste danach fragen. Wenn nicht, würde die Frage stets in ihm rumoren und alles überschatten, bis er die Antwort gefunden hatte. »Hat jemand mal eine Strecke sabotiert?«
    Der Schreiber zog ruckartig die Augenbrauen hoch. »Sie meinen, einen Zug in die Luft gesprengt? Großer Gott! Ich hoffe nicht!« Er biss sich auf die Lippen. »Wenn ich so darüber nachdenke – es gab ein paar schlimme Unfälle, bei einem oder zweien weiß bis heute niemand so genau, wie sie eigentlich passiert sind. Normalerweise gibt man dem Lokführer oder dem Bremser die Schuld. Vor etwa sechzehn Jahren gab es einen ganz bösen Unfall auf der Strecke nach Liverpool rauf, das war so eine, wo die

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