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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Kirche versetzt werden musste und der Vikar darüber zutiefst betrübt war.« Er starrte Monk mit wachsendem Entsetzen an. »Schrecklich. Ich habe damals noch zu Hause gewohnt, und ich erinnere mich, wie mein Vater, weiß wie eine Wand, in die Stube kam, und zwar ohne die Zeitung. Es war Sonntagmittag; wir waren in der Kirche gewesen und hatten noch keinen Blick in die Morgenzeitungen geworfen.
    ›Wo ist die Zeitung, George?‹, fragte meine Mutter.
    ›Gibt heute keine Zeitung, Lizzie‹, antwortete er.
    ›Auch nicht für dich, Robert‹, sagte er zu mir. ›Auf der Strecke rauf nach Liverpool hat es einen schrecklichen Unfall gegeben. Fast hundert Menschen sind umgekommen, und Gott weiß, wie viele Verletzte es gab. Ich erzähl's euch, weil ihr es sowieso auf der Straße hören werdet, aber seht euch bloß keine Zeitung an. Da stehen Sachen drin, die ihr gar nicht wissen wollt. Und Bilder, die ihr nicht sehen wollt.‹ Er wollte meine Mutter schonen.«
    »Aber Sie haben sie trotzdem angeschaut?«, fragte Monk, obwohl er die Antwort bereits wusste.
    »Natürlich!« Bei der Erinnerung wurde der Schreiber ganz blass. »Ich wünschte, ich hätt's nicht getan. Was mein Vater wegen meiner Mutter nicht erwähnt hatte, war, dass ein Kohlenzug einen Sonderzug mit einer Gruppe Kinder auf einem Ferienausflug erwischt hatte. Sie kamen gerade von einem Tag am Meer zurück, die armen kleinen Würmer.« Wie um sie zu vertreiben, die qualvollen Schreckensbilder von zerquetschten Körpern in zertrümmerten Waggons und von Rettern, die voller Angst vor dem, was sie vorfinden würden, in verzweifelter Eile zu ihnen vorzudringen versuchten, blinzelte er.
    War es das, was verschüttet am Rand von Monks Bewusstsein lauerte wie eine Pestbeule, die darauf wartete, geöffnet zu werden? Was für ein Mensch war er, dass er von einer solchen Sache gewusst – ja, sogar daran teilgehabt – und sie doch vergessen hatte? Und wenn er nicht daran beteiligt gewesen war, warum war seine Trauer dann nicht so unschuldig wie die des Mannes?
    Was hatte er damals getan? Wer war er gewesen vor dieser Nacht vor fast sieben Jahren, als er in einem einzigen Augenblick ausgelöscht und neu erschaffen worden war, geistig rein gewaschen, körperlich aber immer noch derselbe Mensch, immer noch verantwortlich?
    Gab es auf der Welt irgendetwas Wichtigeres, als dies zu erfahren? Oder irgendetwas Schrecklicheres?
    »Was hat den Unfall verursacht?« Er hörte seine eigene Stimme wie von weit weg, ein Fremder, der in der Stille sprach.
    »Weiß nicht«, sagte der Schreiber leise. »Hat man nie rausgefunden. Haben, wie schon gesagt, dem Zugführer und dem Bremser die Schuld gegeben. War ja leicht. Die waren schließlich tot und konnten sich nicht mehr wehren. Kann sein, dass sie's waren, wer weiß.«
    »Wer hatte die Strecke gebaut?«
    »Weiß ich nicht, Sir, aber sie war perfekt. Wurde seither ständig befahren, und es ist nie wieder was passiert.«
    »Wo war das genau?«
    »Weiß nicht mehr, Sir. War natürlich auch nicht der einzige Eisenbahnunfall. Hab mich nur daran erinnert, weil er der schlimmste war – wegen der Kinder.«
    »Irgendetwas hat ihn ausgelöst«, beharrte Monk. »Züge stoßen nicht einfach so zusammen.« Er wünschte sich sehnlichst, man würde ihm sagen, es sei ganz sicher menschliches Versagen gewesen und habe nichts mit der Planung oder dem Bau der Strecke zu tun gehabt, aber ohne Beweise konnte er das nicht glauben. Arrol Dundas war vor Gericht gestellt und ins Gefängnis geworfen worden. Die Geschworenen waren überzeugt gewesen, dass er einen Betrug begangen hatte. Warum? Welchen Betrug? Monk wusste nichts darüber. Hatte er damals etwas gewusst? Hätte er Dundas retten können, wenn er bereit gewesen wäre, seine Beteiligung einzugestehen? Das war die Angst, die von allen Seiten auf ihn zukroch wie die herannahende Nacht und ihm all seine neu gewonnene Wärme und Freude zu rauben drohte.
    »Weiß nicht«, beharrte der Schreiber. »Das wusste niemand, Sir. Oder wenn doch, dann hat niemand darüber gesprochen.«
    »Nein … natürlich nicht. Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Monk. »Wo kann ich etwas über Grunderwerb und die Vermessungsarbeiten für die Eisenbahn herausfinden?«
    »Am besten gehen Sie in die dem betreffenden Streckenabschnitt am nächsten liegende Kreisstadt«, antwortete der Schreiber. »Wenn's Ihnen um die alte Strecke geht, sollten Sie am besten in Liverpool anfangen.«
    »Für Derbyshire ist das wohl Derby, nicht

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