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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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genau zu verstehen, was passiert war und wohin die Gewinne geflossen waren. Er brütete über den Seiten, aber wenn es Gesetzesübertretungen gegeben hatte, waren sie zu schlau versteckt, als dass er sie finden konnte. Vielleicht hätte er sie vor sechzehn oder siebzehn Jahren erkannt, aber wenn er diese Fähigkeiten damals gehabt hatte, dann hatte er sie zwischenzeitlich verloren.
    Eisenbahn bedeutete Fortschritt. In einem Land wie England mit seinen Minen, Mastbetrieben, Werften, Baumwollspinnereien und Fabriken mussten Kanäle zwangsläufig von der schnelleren, flexibleren Eisenbahn abgelöst werden. Mit ihr konnte man den Weg abkürzen, durch Berge hindurchfahren oder oben drüber, von einem Tal zum anderen, ohne dass man Zeit und Geld verlor, weil Schleusenkammern gefüllt und geleert und Wassermassen ständig hin und her bewegt werden mussten. Die Zerstörungen auf der Strecke waren nur ein Teil dieses Prozesses, den keine Macht verhindern konnte. Den Bau neuer Kanäle hätten die Bewohner von Dörfern wie von Städten, Bauern, Landadel und Pfarrer nicht weniger verflucht.
    Er sah Artikel mit Zeichnungen von Protestierern, die Spruchbänder hochhielten, Zeitungskarikaturen, welche die dröhnenden, Dampf ausstoßenden Eisenmaschinen als Teufelswerk bezeichneten, wo sie doch eigentlich nur das Ergebnis von Zeit und Arbeit waren. Und Korruption lag in der Natur des Menschen.
    Er saß da und durchforschte alle Dokumente, die er sich vorgenommen hatte, bis ihm der Kopf brummte und seine Schultern schmerzten. Es gab Gewinne und Verluste, aber in diesem Geschäft war das nun mal Schicksal. Es gab dumme Entscheidungen, daneben solche, die er mit der Weisheit einiger halb erinnerter Erfahrungen als Fehlentscheidungen hätte vorhersehen können. Und natürlich gab es auch einfach Pech – aber auch Glück. Fehleinschätzungen, kaum der Rede wert, hier mal eine Entfernung, dort mal eine falsche Vermessung, kamen auch vor.
    Während er über den Seiten grübelte, wurde ihm die Arbeit zunehmend vertrauter. Das Rad der Zeit schien stillzustehen, und er hätte von dem Lampenschein auf den Papieren aufschauen können und statt des leeren Gasthauszimmers oder des einsamen Tisches im Archiv oder in der Bibliothek genauso gut Dundas erblicken können, der ihn anlächelte.
    In der zweiten Nacht wachte er im Dunkeln auf, lag angespannt im Bett, verwirrt über die Stille und ohne eine Ahnung zu haben, wo er war. In seinem Kopf erklangen noch wütende und anklagende Schreie, erschienen ihm noch die Menschen, die einander anrempelten, und deren weiße, vor Kummer verzerrte Gesichter.
    Er war außer Atem, als wäre er gelaufen. Ohne es zu merken, hatte er sich im Bett aufgesetzt. Er war wie gelähmt. Wovon hatte er geträumt? Er wollte entkommen, laufen und laufen und es für immer hinter sich lassen!
    Doch es würde ihm folgen. Das sagte ihm sein Verstand. Wenn man vor seinen Ängsten floh, verfolgten sie einen. Das wusste er von dem Kutschenunfall, der ihn seiner Vergangenheit beraubt hatte, und den darauf folgenden Albträumen.
    Er war nicht bereit, sich umzudrehen und in diese anklagenden Gesichter der Menschen zu schauen. Er fühlte sich wie wund, als hätte man ihn körperlich berührt, so real waren sie gewesen. Aber es gab kein Entrinnen, denn sie waren in ihm, Teil seines Bewusstseins, seiner Identität.
    Sehr langsam legte er sich wieder hin, sank auf die Laken, die jetzt kalt waren. Er zitterte. Die Angst war noch da, ein namenloser Schrecken, der, selbst als er den Mut aufbrachte oder einfach nicht anders konnte, als ihn anzuschauen, keine Form annahm. Er konnte sich an die Wut erinnern, den Verlust, aber die Gesichter selbst waren verschwunden. Was glaubten sie, was er getan hatte? Ihnen ihr Land genommen? Einen Hof geteilt, einen Besitz ruiniert, Häuser zerstört, sogar einen Friedhof geschändet? Es war doch nichts Persönliches, er hatte es im Auftrag der Eisenbahn getan!
    Aber für diejenigen, die verloren hatten, war es sehr persönlich. Was war persönlicher als das eigene Zuhause? Oder das Land, das Eltern und Großeltern seit Generationen bebaut hatten? Oder die Erde, in der die Toten der Familie begraben lagen?
    Ging es darum? Um den blinden, verängstigten Widerstand gegen Veränderung? Dann war er nur insofern schuldig, als er das Werkzeug des Fortschritts war. Warum schmerzte sein Körper, und warum hatte er Angst, wieder einzuschlafen? Wegen der Dämonen, die zurückkehren würden, wenn er keinen Wächter

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