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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Polizei.«
    »Wie wollen Sie das denn hinkriegen?«, fragte Bessie mit Ablehnung in der Stimme. »Wer soll Ihnen denn was erzählen? Und überhaupt, wen wollen Sie eigentlich fragen?«
    »Die Leute in der Leather Lane natürlich«, antwortete Hester und breitete ihren Umhang zum Trocknen aus. »Wir müssen wissen, ob Baltimore regelmäßig dort verkehrte oder ob es sein erster Besuch war. Wenn er oft dort war, wird irgendjemand was über ihn wissen: wen er sonst noch kannte, was für ein Mann er außerhalb von Heim und Familie war. Ich würde gerne wissen, ob er wegen der Frauen dort war oder noch etwas anderes vorhatte. Vielleicht ist ihm jemand von zu Hause bis hierher gefolgt? Es könnte doch sein, dass sein Tod gar nichts mit den Leuten aus der Gegend hier zu tun hat.«
    Bessie strahlte. »Mensch! Das wär ja was!«
    »Aber die Leute in der Leather Lane kennen seinen Namen vielleicht gar nicht«, wandte Margaret ein. »Ich glaube nicht, dass er ihn benutzt hat.«
    »Glaube ich auch nicht«, stimmte Hester ihr zu. »Wir brauchen ein Bild, das wir den Leuten zeigen können.«
    Margaret machte große Augen. »Ein Bild! Woher sollen wir ein Bild auftreiben? Nur die Familie hat eines, und die gibt es uns sicher nicht.«
    Hester atmete tief durch und wagte sich mutig vor. »Also … da habe ich schon eine Idee. Ich kann nicht sehr gut zeichnen, aber Sie.«
    »Ach!« Margarets Stimme schoss abwehrend in die Höhe, und sie schüttelte den Kopf, aber sie blickte Hester weiter unverwandt in die Augen. »Ach, nein!«
    »Haben Sie denn eine bessere Idee?«, fragte Hester mit unschuldiger Miene.
    Bessie begriff – mit wachsendem Entsetzen. »Sie werden doch nicht!«, sagte sie zu Hester. »Das Leichenschauhaus! Sie wollen einen Toten zeichnen?«
    »Ich nicht«, verbesserte Hester sie. »Wenn ich ihn zeichnen würde, würde nicht mal seine eigene Mutter ihn wiedererkennen, aber Margaret zeichnet sehr gut. Sie kann ein Gesicht wirklich einfangen, auch wenn sie zu bescheiden ist, um es zuzugeben.«
    »Das ist es nicht …«, setzte Margaret an, verstummte dann jedoch. Sie starrte Hester an, und Unglaube verwandelte sich langsam in Begreifen. »Wirklich?«, flüsterte sie. »Glauben Sie … ich meine … würde man uns das erlauben …«
    »Also, wir müssen die Geschichte an ein oder zwei Stellen noch etwas frisieren«, gab Hester trocken zu. »Aber ich habe vor, mein Bestes zu versuchen.« Sie wurde sehr ernst. »Es ist wirklich wichtig.«
    »Solange Sie das mit dem Frisieren übernehmen«, sagte Margaret in einem letzten Versuch, vernünftig zu sein.
    »Natürlich«, meinte Hester, obwohl sie noch keine klare Vorstellung von dem hatte, was sie sagen würde. Sie hatte auf den anderthalb Kilometern zum nächsten Leichenschauhaus, wohin man Baltimore gebracht hatte, viel Zeit, darüber nachzudenken.
    »Ich habe weder Bleistift noch Papier«, sagte Margaret. »Aber ein paar Shillings … Ich meine, die nicht für das Haus sind …«
    »Ausgezeichnet«, freute Hester sich. »Dann kaufen wir, was Sie brauchen, in Mrs. Clarks Laden an der Ecke Farringdon Road. Und ich würde sagen, auch einen Radiergummi. Wir haben vielleicht nicht die Zeit, immer wieder von vorne anzufangen.«
    Margaret zuckte die Achseln und stieß ein nervöses Lachen, fast ein Kichern aus. Hester hörte darin einen Anflug von Hysterie.
    »Alles in Ordnung!«, sagte Margaret schnell. »Ich dachte nur gerade, was mein Zeichenlehrer wohl sagen würde, wenn er das wüsste. Sein Gesicht möchte ich sehen. So richtig altbacken, ließ mich immer sittsame junge Damen zeichnen. Meine Schwester und ich mussten uns gegenseitig zeichnen. Noch nicht mal einen Gentleman durften wir zeichnen. Allein der Gedanke daran war schlimm genug – er würde einen Anfall kriegen, wenn er wüsste, dass ich eine Leiche zeichnen will! Die wird doch hoffentlich mit einem Laken oder so zugedeckt sein.«
    »Wenn nicht, haben Sie meine ausdrückliche Anweisung, eines zu zeichnen«, versprach Hester, während sie vor Lachen übersprudelte – nicht, weil sie es lustig fand, sondern weil der Gedanke an die Absurdität der Situation das einzig Erträgliche daran war.
    Sie zogen sich Mäntel und Hüte an und machten sich auf den Weg, raschen Schrittes gingen sie durch den Regen. Sie kauften einen Block, Bleistifte und einen Radiergummi und eilten zum Leichenschauhaus, einem hässlichen Steingebäude, das ein wenig von der Straße zurückgesetzt stand.
    »Was soll ich sagen?«, fragte Margaret, als

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