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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sie nebeneinander die Stufen hinaufgingen.
    »Sagen Sie einfach das Gleiche wie ich«, antwortete Hester flüsternd. Sobald sie durch die Tür waren, standen sie vor einem älteren Herrn mit weißem Backenbart und beängstigend hoher Stimme, beinahe Falsett.
    »Guten Morgen, meine Damen. Womit kann ich Ihnen dienen?« Er verbeugte sich leicht, womit er ihnen den Durchgang so effektiv blockierte, als hätte er den Arm ausgestreckt. Ohne zu blinzeln, fixierte er Hesters Gesicht und wartete darauf, dass sie sich erklärte.
    Hester starrte ihn unverwandt an. »Guten Morgen, Sir. Ich hoffe, dass Sie in Anbetracht der misslichen Situation von Miss Ballinger unserer Bitte entsprechen können.« Mit kummervoller Miene zeigte sie auf Margaret. »Sie ist eben erst aus dem Ausland zurückgekehrt, wo sie ihre Mutter besucht hat, die in ein wärmeres Klima gezogen ist – wegen ihrer Gesundheit, Sie verstehen.« Sie biss sich auf die Lippen. »Nur um vom schrecklichen und äußerst tragischen Tod ihres Onkels zu hören.« Sie wartete ab, ob er ein Zeichen des Mitgefühls zeigte. Vergeblich. Sie wagte nicht, Margaret anzusehen, um seine Aufmerksamkeit nicht auf deren verblüffte Miene zu lenken.
    Der Leichenschauhauswärter räusperte sich. »Ja?«
    »Ich habe sie begleitet, damit sie ihrem Onkel, Mr. Nolan Baltimore, ihre letzte Ehre erweisen kann«, fuhr Hester fort. »Sie kann nicht bis zur Beerdigung bleiben. Der Himmel weiß, wann die sein wird.«
    »Sie möchten eine der Leichen sehen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde Ihnen abraten, meine Damen. Kein schöner Anblick. Wenn ich Sie wäre, würde ich ihn so in Erinnerung behalten, wie er war.«
    »Meine Mutter wird mich nach ihm fragen«, sagte Margaret schließlich mit heiserer Stimme.
    »Sagen Sie ihr, er habe in Frieden geruht«, sagte der Wärter fast ausdruckslos. »Sie wird's nicht merken.«
    Margaret brachte es fertig, ein schockiertes Gesicht zu machen. »Ach, das würde ich nicht wagen!«, sagte sie hastig. »Außerdem … sie wird mich bitten, ihn zu beschreiben, und es ist so lange her, dass ich ihn gesehen habe, ich könnte einen Fehler machen. Dann würde ich mich schrecklich fühlen. Ich … ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie mir einfach erlauben würden, ein paar Augenblicke bei ihm zu verweilen. Sie können natürlich auch die ganze Zeit bei uns bleiben, wenn Sie das Gefühl haben, dass sich das so gehört.«
    Hester knirschte mit den Zähnen und fluchte innerlich. Eine Beschreibung von Nolan Baltimore würde ihr nichts nützen. Sie brauchten Skizzen, die sie den Leuten zeigen konnten! Hatte Margaret das denn nicht begriffen? Sie versuchte, Margarets Blick auf sich zu lenken, aber Margaret sah sie nicht an; sie konzentrierte sich vollkommen auf den Wärter – auch um wegen des feuchten, modrig-süßlichen Geruchs nicht umzukippen.
    »Also …«, sagte er nachdenklich. »Mir macht's ja nichts aus, und ihm wohl auch nicht. Aber machen Sie mich nicht verantwortlich, wenn Sie ohnmächtig werden!« Er sah Hester an. »Stellen Sie sich daneben. Falls eine von Ihnen umkippt, hole ich Ihnen keinen Quacksalber. Sie stehen selbst wieder auf, verstanden?«
    »Sicher«, sagte Hester schroff. Dann erinnerte sie sich an die Rolle, die sie sich auferlegt hatte, und änderte ihre Haltung. »Sicher«, wiederholte sie mit erheblich mehr Respekt. »Sie haben ganz Recht. Wir sollten uns entsprechend verhalten.«
    »Also gut.« Er drehte sich um und führte sie durch die Tür und den Gang hinunter zum Kühlraum, wo die Leichen aufbewahrt wurden, wenn sie für einen längeren Zeitraum gebraucht wurden.
    »Warum haben Sie ihn denn bloß aufgefordert, uns zu begleiten?«, flüsterte Hester mit erstickter Stimme.
    Der Bedienstete blieb stehen und drehte sich um. »Wie bitte?«
    Hester spürte, dass sie rot anlief. »Ich … ich sagte, wie nett von Ihnen, dass Sie sagten, Sie würden uns begleiten«, log sie.
    »Muss ich ja schließlich«, sagte er mürrisch. »Ich bin für die Leichen hier verantwortlich. Man hält es für unwichtig, aber Sie wären überrascht, was manche so mit Leichen anstellen. Tatsache ist, dass es ganz schön viele Verrückte gibt!« Er schnaubte. »Es gibt Leute, die stehlen Leichen, um sie aufzuschneiden, Gott steh uns bei!«
    Margaret schluckte, ihr Gesicht war bleich, aber sie wahrte bewundernswert die Fassung. »Alles, was ich möchte, ist einen Blick auf Onkel Nolan werfen«, sagte sie heiser. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich das tun

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