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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zeichnen, bevor ich ihn vergesse!«, zischte Margaret. »Das geht hier im Regen nicht.«
    Hester war vollkommen verdutzt. »Können Sie … ich meine, könnten …«
    »Natürlich! Wenn ich es tue, solange er mir noch deutlich in Erinnerung ist! Im Augenblick fühlt es sich zwar an, als wäre er das für immer, aber der gesunde Menschenverstand und eine gewisse Hoffnung sagen mir, dem wird nicht so sein.« Margaret schaute sich um und schritt, um einen solchen Ort zu finden, energisch aus, und Hester musste ein paar Schritte laufen, um mit ihr mithalten zu können, und sie dann am Arm packen, damit sie nicht in einen Straßenhändler lief, der ihnen gerne ein paar Schnürsenkel verkauft hätte.
    Schließlich fanden sie eine Schänke, wo sie sich an einen Tisch in der Ecke setzten und zwei halbe Pint Apfelwein und zwei heiße Pasteten bestellten. Sobald dies serviert worden war, nahm Margaret Papier und Bleistift heraus und fing an zu zeichnen. Ab und zu trank sie einen Schluck, aber die Pastete rührte sie nicht an. Vielleicht war ihr der Gedanke, etwas zu essen, während sie das Gesicht eines toten Mannes vor sich sah, unerträglich.
    Hester war plötzlich sehr hungrig. In ihrem Fall wog die Erleichterung schwerer als Empfindlichkeit, und alles, an was sie denken konnte, war, wie geschickt Margaret Charakter und Leben in ein auf Papier geschaffenes Bild brachte. Nolan Baltimores Gesicht nahm vor ihren Augen Form an, bis sie das Gefühl hatte, sie müsste ihn gekannt haben.
    »Das ist ja unglaublich!«, sagte sie mit großem Respekt, wischte sich die Finger an ihrem Taschentuch ab und trank den letzten Schluck Apfelwein. »Wenn wir das den Leuten zeigen, wissen sie bestimmt, ob sie ihn schon einmal gesehen haben oder nicht.«
    Margaret schaute zu ihr auf, ihre Augen strahlten vor Freude über das Lob. »Ich mache besser gleich noch eine«, sagte sie ernst. »Wenn wir die verlieren, wird's schwierig.« Und sofort begann sie, Baltimore aus einem etwas anderen Blickwinkel noch einmal zu zeichnen, im Halbprofil.
    Hester holte noch zwei Gläser Apfelwein und sah geduldig zu, wie Margaret eine dritte Zeichnung anfertigte, bemerkenswert detailliert und schattiert, um eine fast dreidimensionale Ähnlichkeit zu zeigen.
    Bevor sie das Risiko eingingen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, packten sie die Zeichnungen ein und zahlten, dann traten sie hinaus auf die feuchte Straße. Der Himmel war klar, und eine milde Brise versprach, dass das auch so bleiben würde.
    Sie hatten einen sehr ruhigen Nachmittag in Coldbath. Hester machte zur Vorbereitung für das, was sie einen Großteil der Nacht wach halten würde, ein kleines Nickerchen. Sie wusste, dass Monk nicht zu Hause war und sie folglich nicht zu erklären brauchte, warum sie auch nicht zu Hause sein würde. Sie hatte nicht die Absicht, Margaret mitzunehmen. Margaret hatte heute bereits großartige Arbeit geleistet.
    Zudem war es für den Fall, dass Mr. Lockharts Hilfe gebraucht wurde, notwendig, dass zwei Personen hier waren. Jemand musste ihn holen, und das war meist Bessie. Sie schien die magische Fähigkeit zu besitzen, ihn immer und überall aufzutreiben. Vielleicht spürten seine Freunde ihre Zuneigung zu ihm, und ihre eigene Vergangenheit hatte sie gelehrt, weder zu fragen noch zu urteilen.
    Margaret wollte widersprechen, aber als Hester ihr klar machte, dass Bessie im Fall einer ernsthaft Verletzten nicht allein zurechtkäme, stand in ihren Augen eine gewisse Erleichterung.
    »Ja, das stimmt wohl«, sagte sie zögernd. »Aber was ist mit Ihnen? Sie sollten auch nicht allein unterwegs sein! Es könnte Ihnen alles Mögliche zustoßen, und wir wüssten es nicht mal. Warum machen Sie nicht …« Sie hielt inne.
    Hester lächelte. »Warum mache ich was nicht? Ihnen fällt auch kein besserer Plan ein. Ich werde wirklich sehr vorsichtig sein, versprochen. Ich sehe doch mehr oder weniger aus wie die Frauen, die hier in der Gegend wohnen, und die gehen auch allein herum. Im Augenblick ist überall in den Straßen Polizei. Das wissen die anderen so gut wie wir. Solange ich nicht den Eindruck erwecke, ich sei auf Geschäfte aus, und das werde ich tunlichst vermeiden, bin ich so sicher wie alle anderen auch.« Ohne auf weitere Einwände von Margaret, Bessie oder einer zur Vorsicht mahnenden Stimme in ihrem Kopf zu warten, nahm sie ein altes Umhängetuch aus dem Schrank und trat hinaus auf die Straße. Der Abend war schön und ziemlich warm. Sie richtete den Blick geradeaus und

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