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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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könnte, ohne mir noch mehr solche … Scheußlichkeiten anhören zu müssen. Ich weiß anzuerkennen, warum Sie … und … und Sorgfalt ist notwendig. Ich bin sehr dankbar dafür.«
    »Tue nur meine Pflicht«, sagte er steif, öffnete die nächste Tür und schob sie in einen kleinen, sehr kalten Raum mit nackten, weiß getünchten Wänden. »Sie sagten Nolan Baltimore? Der Letzte da drüben.« Er ging über den feuchten Steinfußboden zum vierten Tisch, wo eine Gestalt auf dem Rücken lag, zugedeckt mit einem großen ungebleichten Baumwolllaken. Der Wärter warf Margaret einen skeptischen Blick zu, als wollte er einschätzen, wie wahrscheinlich es war, dass sie ohnmächtig wurde oder ihm sonst wie zur Last fallen würde. Schließlich gab er auf und zog mit einem resignierten Seufzen das Laken vom Kopf und von den Schultern des Toten.
    Margaret stieß mit einem leisen Zischen die Luft zwischen den Zähnen aus und schwankte, als wäre der Boden unter ihren Füßen ein Schiffsdeck.
    Hester trat rasch einen Schritt vor, legte die Arme eng um sie und drückte so fest, dass es wehtat.
    Margaret schrie kurz auf, aber Hesters fester Griff schien sie zu stabilisieren.
    Sie schauten auf das gefleckte grau-weiße Gesicht hinunter. Es hatte grobe Züge, fleischige Wangen und Kinnpartie. Die großen Augen waren jetzt geschlossen, aber die Augenhöhlen deuteten ihre Form an. Er hatte eine beginnende Stirnglatze, sein Haar war wellig und von dunkler, rötlich gelber Farbe. Er war offensichtlich groß, mit breiter Brust und kräftigen Armen. Es war schwer, seine Größe zu schätzen, wahrscheinlich um einen Meter achtzig.
    Das Schwierigste war, sich Leben und Farbe in den Zügen vorzustellen, wie sie wohl gewesen waren, als Intelligenz sie belebt hatte. Denn um eine Gesellschaft wie Baltimore und Söhne aufzubauen, musste er Sachkenntnis, Vorstellungskraft und sehr viel Ehrgeiz besessen haben.
    »Vielen Dank«, flüsterte Margaret. »Er… er sieht so friedlich aus. Wie ist er gestorben?«
    »Wir tun unser Bestes«, sagte der Wärter, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht.
    »Wie?«, wiederholte sie mit kratzender Stimme.
    »Weiß nicht. Die Polizei meint, er sei wahrscheinlich 'ne Treppe runtergefallen. Man kann nicht sehen, wie kaputt er innen ist. Und natürlich waschen wir sie.«
    »Vielen Dank«, wiederholte Margaret und hatte Mühe zu atmen. Die Kälte und der Karbolgestank waren unerträglich.
    Hester starrte auf die Gestalt auf dem Tisch. Sie hatte schon viele tote Männer gesehen, obwohl die meisten von ihnen nicht so ordentlich und sauber ausgestreckt dagelegen hatten wie dieser hier. Aber auch ohne ihn zu berühren oder zu bewegen, bemerkte sie, dass er nicht ganz gerade dalag. Gewaschen oder nicht, sie vermutete, dass viele seiner Knochen gebrochen oder ausgerenkt waren. Es musste ein harter Aufprall gewesen sein. Als sie seinen Kopf betrachtete, fielen ihr feine Kratzer am Hals auf, die sich von unterhalb des linken Ohrs bis zur Kehle erstreckten und dann vorne über dem Brustbein wieder anfingen. Fingernägel? Es waren Kratzer, keine Schnitte, und die Kanten waren frisch und roh, jetzt natürlich ohne Blut, aber die Haut sah abgerissen aus, als habe sie nicht mehr heilen können.
    »Genug gesehen?«, fragte der Wärter, sah Margaret an und runzelte die Stirn.
    »Ja … ja, vielen Dank«, antwortete Margaret. »Ich … ich sollte jetzt gehen. Ich habe meine Pflicht getan. Armer Onkel Nolan. Vielen Dank für Ihre …« Sie verstummte, unfähig, die Fassung zu wahren und den Satz zu beenden.
    Hester erkannte, dass Margaret am Ende ihrer Kraft war. Womöglich war es das erste Mal, dass sie einen toten Mann sah, obwohl in dem Haus am Coldbath Square schon einmal eine Frau gestorben war, aber das war anders gewesen, mit einer Art von Frieden am Ende. Und die Frau war alt gewesen.
    Sie legte Margaret den Arm um die Schultern und ging mit ihr hinaus in den Durchgang. Sie musste ihre Enttäuschung herunterschlucken. Zumindest hatte sie ein Bild vor Augen, das sie mit Worten beschreiben konnte.
    Am Eingang dankten sie dem Bediensteten noch einmal und traten dann so schnell, wie es anständigerweise möglich war, hinaus auf die Straße in den leise fallenden Regen.
    »Tee!«, keuchte Margaret. »Und hinsetzen, irgendwo, wo es trocken ist!«
    »Möchten Sie nicht lieber zum Coldbath Square zurück?«, fragte Hester besorgt. »Ich bin mir nicht sicher, welche Art von Etablissement hier in der Gegend …«
    »Ich möchte ihn

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