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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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war feige, und er schämte sich dafür, aber er stellte sich vor, was sie empfinden würde, wenn sie gezwungen wäre, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, dass er nämlich sehr viel weniger wert war, als sie glaubte. Dazu war er noch nicht bereit. Wenn er sein Versprechen gegenüber Katrina Harcus halten und ein neues Eisenbahnunglück verhindern wollte, durfte er nicht zulassen, dass seine Gedanken von diesem Schmerz abgelenkt wurden.
    Selbst das war eine Ausflucht. Er tat es um seinetwillen. Es war ein Zwang, niemals zuzulassen, dass so etwas noch einmal geschah. Er musste es tun, bevor er sich den früheren Ereignissen stellen konnte, die irgendwo in seiner Erinnerung verborgen lagen, bruchstückhaft, unvollständig, aber unleugbar.
    Er öffnete die Tür und trat ein, um sich umzuziehen, zu packen, eine Tasse Tee zu trinken und eine Scheibe Brot mit kaltem Fleisch zu essen, falls überhaupt welches da war. Er würde Hester eine Nachricht hinterlassen und ihr seine Abwesenheit erklären. Stattdessen stieß er fast mit ihr zusammen, als sie lächelnd aus der Küche kam, um ihn mit einer Umarmung zu begrüßen. Aber er sah die Unsicherheit in ihren Augen, die davon sprach, dass sie um seine Einsamkeit wusste, um den Verlust der alten Offenheit zwischen ihnen. Sie war verletzt und versteckte es um seinetwillen.
    Er zögerte, denn er verabscheute die Lüge und hatte gleichzeitig doch Angst vor der Wahrheit. Er durfte keine Sekunde länger zaudern, er musste eine Entscheidung fällen! Jetzt. Er tat es instinktiv. Er trat vor, nahm sie in die Arme, hielt sie zu fest, bis er spürte, wie sie nachgab und sich an ihn klammerte. Dies zumindest war ehrlich. Nie hatte er sie mehr geliebt, mit ihrem Mut, ihrer Großzügigkeit, der Heftigkeit, mit der sie andere schützen wollte, und ihrer Verletzlichkeit, die sie so gut zu verbergen glaubte und die in Wirklichkeit doch so offensichtlich war.
    Er drückte die Wange in ihr weiches Haar und bewegte leise die Lippen, ohne jedoch etwas zu sagen. Zumindest hatte er sie nicht mit Worten absichtlich irregeführt. Gleich würde er ihr erzählen, dass er wieder wegfahren würde und vielleicht sogar, warum, aber für eine Weile wollte er einfach nur die Berührung sprechen lassen, ohne Komplikationen. Er würde sich später daran erinnern, es in Gedanken bewahren und in der stillschweigenden Erinnerung seines Körpers, die noch tiefer reichte.
    Es war spät, als er zum Archiv kam. Er wusste nicht einmal das Datum von Dundas' Tod, nur das Todesjahr. Es konnte eine Weile dauern, bis er die richtige Akte fand, da er sich auch in Bezug auf den Ort nicht sicher war. Aber zumindest handelte es sich um einen ungewöhnlichen Namen. Wenn er noch bei der Polizei gewesen wäre, hätte er verlangt, dass das Archiv für ihn offen bliebe, bis er gefunden hatte, was er suchte. Als Privatperson konnte er das nicht.
    Er fragte einfach nach dem Abschnitt, nach dem er suchte, und als er dorthin geführt wurde, setzte er sich auf einen hohen Hocker und strengte seine Augen an, um Seite um Seite krakeliger Handschrift zu lesen.
    Der Angestellte trat gerade neben ihn, um ihm zu sagen, dass sie schließen würden, da sah er den Namen Dundas und den restlichen Eintrag: Er war im April 1846 im Gefängnis in Liverpool an einer Lungenentzündung gestorben.
    Er schloss das Buch und wandte sich dem Mann zu. »Vielen Dank«, sagte er heiser. »Das ist alles, was ich brauche. Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Es war irrational, dass die in Tinte festgehaltenen Worte es so viel wirklicher machten. Sie entrissen es der Sphäre der Vorstellung und Erinnerung und versetzten es in die der unauslöschlichen Fakten, die der Welt so bekannt waren wie ihm.
    Er schritt durch die Tür, ging die Stufen hinunter und folgten den Straßen zurück zum Bahnhof, wo er sich ein Schinkensandwich und eine Tasse Tee kaufte und auf den letzten Zug Richtung Norden wartete.
    Als der Nachtzug kurz vor der Morgendämmerung in die Lime Street Station in Liverpool einlief, stieg Monk vor Kälte zitternd und mit steifen Gliedern aus und kaufte sich etwas Heißes zu trinken und zu essen. Dann suchte er sich eine Unterkunft, wo er sich waschen und rasieren und ein sauberes Hemd anziehen konnte, bevor er sich auf die Suche nach der Vergangenheit machte.
    Es war noch viel zu früh, als dass irgendein Archiv offen hatte, aber ohne zu fragen, wusste er, wo das Gefängnis war. Um sieben Uhr brach ein grauer Tag an, und vom Mersey wehte ein steifer Wind

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