Tod eines Fremden
herauf. Um ihn herum gingen die Menschen mit schnellen Schritten und gesenkten Köpfen zur Arbeit. Er hörte den flachen, nasalen Liverpooler Akzent, bei dem die Stimme am Ende des Satzes angehoben wurde, den trockenen Humor und die fröhlichen Beschwerden über das Wetter, die Regierung und die Preise und stellte fest, dass ihm das alles merkwürdig vertraut war. Er verstand sogar die Alltagssprache. Er nahm eine Droschke und sagte dem Kutscher einfach, wo er abbiegen musste, Straße für Straße, bis die dunklen Mauern sich vor ihnen auftürmten und er von Erinnerungen überflutet wurde: der Geruch nasser Steine, das Gurgeln des Regens in der Dachrinne, die unebenen Pflastersteine und der kühle Wind, der um die Ecken fegte.
Er bat den Kutscher zu warten, stieg aus und starrte auf die verschlossenen Tore. In Dundas' letzten Tagen war er so oft hier gewesen, dass ihm sogar das Muster von Licht und Schatten auf den Mauern vertraut war.
Mächtiger als die Schwärze der Steine um ihn herum und der Geruch nach tief sitzendem Schmutz und Elend war das alte Gefühl der Hilflosigkeit, das mit vernichtender Macht wiederkehrte, als sei die Luft in seinen Lungen dünn und ließe ihn ersticken.
Er stand reglos da und versuchte, an etwas Greifbares heranzukommen – Worte, Fakten, Einzelheiten –, aber je mehr er sich bemühte, desto schneller entglitt es ihm. Das Gefühl zu ersticken blieb.
Hinter ihm verlagerte das Kutschenpferd sein Gewicht, Hufeisen schlugen laut auf das Pflaster, das Geschirr knarrte.
Hier war nichts zu erreichen. Aus der Erinnerung geholter Schmerz brachte ihn nicht weiter. Dass Dundas tatsächlich hier gestorben war, hatte er nie bezweifelt. Er brauchte etwas, dem er folgen konnte.
Langsam ging er zum Hansom zurück und stieg ein.
»Ich möchte mir alte Zeitungen ansehen«, sagte er zu dem Kutscher. »Von vor sechzehn Jahren. Bringen Sie mich dahin, wo ich die finde.«
»Bibliothek«, antwortete der Kutscher. »Es sei denn, Sie möchten zum Gericht?«
»Nein, vielen Dank. Die Bibliothek ist vollkommen in Ordnung.« Wenn er eine Kopie der Gerichtsakte brauchte, würde er danach fragen, aber so weit war er noch nicht. Um Akteneinsicht zu erhalten, würde er seinen Namen und seine Gründe nennen müssen. In den Zeitungsarchiven konnte er anonym etwas erfahren. Er verachtete sich für den Gedanken, doch er wusste, dass er sich aus reinem Selbsterhaltungstrieb, so gut es ging, vor dem Schmerz zu schützen bemühte. Schmerz machte einen kampfunfähig, und er musste das Katrina Harcus gegebene Versprechen halten.
So früh am Tag interessierte sich sonst niemand für alte Aufzeichnungen, und er hatte die Zeitungsordner ganz für sich. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, da hatte er den Bericht über den Prozess von Arrol Dundas gefunden. Es wusste bereits das Datum von Dundas' Tod, und von dort arbeitete er sich rückwärts. Die Schlagzeile lautete: F INANZIER A RROL D UNDAS WE GEN B ETRUGS VOR G ERICHT .
Er fing an zu lesen.
Es war genau das, was er befürchtet hatte. Die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen, aber er hätte die Worte aufsagen können, als wären sie in zentimetergroßen Buchstaben geschrieben. Es gab sogar eine Federzeichnung von Dun-das in der Anklagebank. Sie war hervorragend. Monk musste keinen Augenblick darüber nachdenken, ob sie den Mann so porträtierte, wie er gewesen war. Sie war so lebendig, der Charme, die Würde, der innere Anstand, es war alles da, eingefangen in ein paar Linien, und die Angst und die Müdigkeit in den feinen, aber ausgemergelten Zügen, die Nase zu spitz, das Haar ein wenig zu lang, die Falten am Hals zu tief, wodurch er insgesamt zehn Jahre älter aussah als die zweiundsechzig, die in der Zeitung standen.
Monk starrte die Zeichnung an und war wieder im Gerichtssaal, spürte den Druck der Körper um ihn herum, den Geruch von Zorn in der Luft, die schroffen Liverpooler Stimmen mit ihrem ungewöhnlichen Rhythmus und Akzent, den ihnen eigenen Humor, der sich heftig gegen das wendete, was sie für Verrat hielten. Die ganze Zeit spürte er die Enttäuschung, wie er bei seinen Bemühungen auf Schritt und Tritt behindert wurde. Hoffnung versickerte wie Wasser in trockenem Sand.
Er fand auch ein Bild des Staatsanwalts, eines großen Mannes mit einem sanften, ruhigen Gesicht, das über seinen Erfolgshunger hinwegtäuschte. Er hatte sich seinen Dialekt abgewöhnt, aber wenn er aufgeregt war, kamen die nasalen Klänge noch durch. Ab und zu vergaß er es
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