Tod eines Fremden
sanft, als wäre es ihre Schulter. Die Geste war merkwürdig besitzergreifend. Jede weitere Bekundung wäre so kurz nach dem Tod ihres Vaters und unter den gegebenen Umständen vielleicht unangemessen gewesen, aber die Geste war unmissverständlich.
Hester schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Livia Baltimore als Tochter eines wohlhabenden Mannes, die durch den Verkauf des rollenden Materials noch um einiges wohlhabender werden würde, eine ganze Menge Heiratskandidaten erwarten konnte, von denen viele sich nicht unbedingt von edlen Motiven leiten lassen würden. Dalgarno kannte sie immerhin schon eine Weile. War es eine aufrichtige Liebe, die lange vor dem in Aussicht stehenden Wohlstand aus Freundschaft entstanden war, oder war es ein klassischer Fall von Opportunismus seitens eines ehrgeizigen jungen Mannes? Sie würde es nie erfahren, und das musste sie auch nicht, aber sie hoffte zutiefst, dass Ersteres zutraf.
Da sie alles erfahren hatte, was sie erfahren konnte, wollte sie nicht länger bleiben und das Risiko eingehen, etwas zu sagen, das Livias Lüge über den Grund für Hesters Anwesenheit aufdecken konnte. Die einzige Wohltätigkeitseinrichtung, mit der sie zu tun hatte, war das Haus am Coldbath Square, und es sah nicht so aus, als würde es Mr. Dalgarno leicht fallen zu glauben dass Livia sich dafür interessierte.
Sie erhob sich. »Vielen Dank, Miss Baltimore«, sagte sie lächelnd. »Sie waren äußerst liebenswürdig, und wenn Sie möchten, werde ich Sie wieder aufsuchen oder auch nicht weiter belästigen, falls Sie das Gefühl haben, wir hätten ….«
»Aber nicht doch!«, unterbrach Livia sie hastig und erhob sich ebenfalls mit einem Rascheln ihrer gestärkten Röcke. »Ich würde mich sehr gerne wieder mit Ihnen unterhalten, falls … falls Sie so freundlich wären?«
»Selbstverständlich«, sagte Hester. »Noch einmal vielen Dank für Ihre Liebenswürdigkeit.« Sie wandte sich an Dalgar-no. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mr. Dalgarno.« Er ging, um ihr die Tür zu öffnen. Sie trat hinaus und wurde von einem Diener zur Haustür begleitet, wobei sie an einem hoch gewachsenen, blonden jungen Mann vorbeikam, der eben das Haus betrat. Seine Vitalität war ebenso bemerkenswert wie seine großen Ohren. Er beachtete sie nicht, sondern schritt auf Dalgarno zu und sprach ihn schon von weitem an. Unglücklicherweise war Hester gezwungen, auf die Straße hinauszutreten, bevor sie irgendetwas mit anhören konnte.
Am folgenden Abend trafen sich Hester und Margaret wie verabredet im Haus von Margarets Schwester, um möglichst viel über Nolan Baltimore zu erfahren.
Hester kleidete sich entsprechend sorgfältig und zog eine gedeckte Jacke und einen passenden Rock an, was sie sonst nur getragen hätte, wenn sie eine private Anstellung als Krankenpflegerin gesucht hätte. Margaret trug ein kleidsames, äußerst modisch geschnittenes Kleid in dunklem Weinrot. Gemeinsam bestiegen sie einen Hansom, der sie kurz nach sechs in der Weymouth Street, südlich des Regent's Parks absetzte. Es war ein sehr beeindruckendes Haus, und als sie den Gehweg überquerten und die Stufen zur Haustür hinaufstiegen, bemerkte Hester in Margaret eine leichte Veränderung. Sie bewegte sich weniger flott, ihre Schultern waren nicht mehr ganz so straff, und fast zaghaft zog sie am Messingknauf der Glocke.
Auf der Stelle wurde die Tür von einem Diener geöffnet. Er war ungewöhnlich groß und hatte bemerkenswerte Beine, Eigenschaften, die in seinem Beruf sehr gefragt waren.
»Guten Abend, Miss Ballinger«, sagte er förmlich. »Mrs. Courtney erwartet Sie und Mrs. Monk. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen.« Er geleitete sie hinein, und Hester konnte nicht umhin, sich genauestens in dem wohlproportionierten, schwarz-weiß gefliesten Flur umzusehen, der zu einem prächtigen Treppenhaus führte. An den Wänden hingen alte Rüstungen, Schwerter und Steinschlossgewehre, deren Schäfte mit Golddraht- und Perlmuttintarsien verziert waren.
Der Diener öffnete die Salontür, kündigte sie an und bat sie hinein. Hester sah, dass Margaret tief Luft holte, bevor sie eintrat.
Eichenholzvertäfelte Wände und schwere pflaumenfarbene Vorhänge umrahmten die hohen Fenster, die auf einen gepflegten Garten hinausführten. Drei Personen erwarteten sie. Die Frau war offensichtlich Margarets Schwester. Sie war nicht ganz so groß und, ihrer Haut und ihrer etwas fülligeren Figur nach zu urteilen, vier oder fünf
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