Tod eines Fremden
Bitte, seien Sie ehrlich … Versuchen Sie nicht, mich mit tröstlichen Lügen abzuspeisen, weil Sie glauben, das mache es mir leichter.«
»Es ist möglich«, sagte Hester vorsichtig. »Ich weiß nicht, wie wahrscheinlich es ist. Es hängt womöglich davon ab, ob es ein persönliches Motiv gab oder ob er einfach durch einen unglücklichen Zufall im falschen Augenblick durch die falsche Straße ging. Wissen Sie, ob er dort mit jemandem verabredet war?« Das war die Frage, auf die sie am dringendsten eine Antwort wollte, und doch war sie sich bewusst, dass die Lösung des Falles Baltimores Familie ruinieren konnte, besonders Li-via, die jung und noch unverheiratet war.
Livia schaute sie verdutzt an, dann schien sie etwas sagen zu wollen, hielt jedoch inne, dachte nach und stellte ihre Tasse wieder weg. »Ich weiß nicht. Er hat uns bestimmt nichts gesagt, aber er hat ja, wie gesagt, mit Mama und mir nie über Geschäftliches gesprochen. Mein Bruder weiß es vielleicht. Ich könnte ihn fragen. Glauben Sie, dass es wichtig ist?«
»Möglich.« Wie offen sollte sie sein? Bereits ihr Besuch war Livia gegenüber nicht ehrlich. Sie dachte an Monk, der unbedingt etwas über den Betrug herausfinden musste, und an Fanny und Alice und all die anderen jungen Frauen – im Grunde an alle Frauen in der Gegend um den Coldbath Square, die immer noch anschaffen gingen, aber wegen der ständigen Polizeipräsenz nichts verdienten. Sie war nicht auf der Suche nach dem Mörder von Nolan Baltimore, um den Kummer seiner Familie zu lindern oder weil sie nach abstrakter Gerechtigkeit strebte.
»Ich weiß, was die Leute denken«, sagte Livia leise, und ihre Wangen röteten sich. »Ich kann es nur einfach nicht glauben. Unmöglich.«
Niemand würde das so mir nichts, dir nichts vom eigenen Vater glauben. Auch Hester nicht. Der Verstand sagte einem, dass der eigene Vater ein Mensch war wie jeder andere, aber das Herz und der Wille leugneten die Vorstellung, dass er sich dazu herabließ, seine sinnlichen Gelüste bei einem käuflichen Weib zu befriedigen. Es war ein unvorstellbarer Verrat.
»Natürlich können Sie das nicht«, sagte Hester verständnisvoll. »Vielleicht weiß Ihr Bruder, ob er vorhatte, sich mit jemandem zu treffen, oder doch zumindest, wohin er wollte.«
»Ich habe es bereits versucht«, sagte Livia ebenso verlegen wie wütend. »Er hat mir nur gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, die Polizei würde die Sache schon aufklären, und ich solle nicht auf das hören, was die Leute sagen.«
»Kein schlechter Rat«, räumte Hester ein. »Zumindest Letzteres.«
Es klopfte, und Livia hatte kaum darauf geantwortet, da ging schon die Tür auf. Ein dunkelhaariger Mann Mitte dreißig kam herein und zögerte den Bruchteil einer Sekunde, als er Hester sah. Er strahlte ein Selbstvertrauen aus, das arrogant, wenn nicht sogar aggressiv wirkte, und doch hatte er eine gewisse Anziehungskraft. Es lag an seiner Energie, die fast wie ein Feuer war, gleichzeitig gefährlich und lebendig. Er bewegte sich anmutig und trug seine Kleidung, als wäre ihm Eleganz auf den Leib geschneidert. Er erinnerte Hester flüchtig an Monk, wie er mit Anfang dreißig gewesen sein musste. Dann war der Eindruck verschwunden. Diesem Mann mangelte es an Tiefe. Sein Feuer war eine Sache des Kopfes, nicht des Herzens.
Livia sah zu ihm hinüber, und ihre Miene erhellte sich augenblicklich. Es geschah nicht bewusst, und doch war es unmöglich, ihre Freude zu übersehen.
»Michael! Dich habe ich gar nicht erwartet!« Sie wandte sich an Hester. »Ich möchte Ihnen Mr. Michael Dalgarno vorstellen, den Partner meines Bruders. Michael, dies ist Mrs. Monk, die so freundlich war, mich im Zusammenhang mit einer Wohltätigkeitseinrichtung, für die ich mich interessiere, aufzusuchen.« Sie wurde kaum rot bei der Lüge. Sie war vollkommen an die Erfordernisse des gesellschaftlichen Umgangs gewöhnt.
»Guten Tag, Mrs. Monk.« Dalgarno verbeugte sich leicht. »Ich bin erfreut, Sie kennen zu lernen, und ich bitte um Verzeihung, das ich hier so hereinplatze. Ich wusste nicht, dass Miss Baltimore Besuch hat, sonst wäre ich nicht so einfach hereingeschneit.« Er sah Livia an und schenkte ihr ein überwältigend charmantes Lächeln. Es besaß eine Offenheit, die so intim war wie eine Berührung.
Röte stieg Livia ins Gesicht, und weder Hester noch Dalgar-no hätten an Livias Gefühlen für ihn zweifeln können.
Er legte die Hand auf die Rückenlehne von Livias Stuhl, so
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