Tod eines Fremden
junge Frau bei dem Wort »Geschäfte« gegen ihren Widerwillen ankämpfte. Dieses Thema war ihr doch recht fremd. Wohlerzogene junge Damen kannten sich mit Prostitution kaum aus, geschweige denn mit dem Leben der Betroffenen. Wäre sie vor dem Tod ihres Vaters gefragt worden, hätte sie noch weniger darüber gewusst, aber unfreundliche Zungen hatten dafür gesorgt, dass sie inzwischen zumindest mit den wichtigsten Tatsachen vertraut war.
»An jeder Ecke steht ein Polizist«, fuhr Hester fort. »Seit Wochen hat es keine Taschendiebstähle gegeben, aber es ist auch kaum noch etwas in den Taschen, das die Mühe lohnen würde. Wer kann, geht natürlich woandershin. Wie kommt es, dass die Polizei selbst ehrbare Leute nervös macht?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Livia. »Wer unschuldig ist, hat doch sicher nichts zu befürchten?«
»Vielleicht sind die wenigsten von uns wirklich vollkommen unschuldig«, wandte Hester ein. Sie sagte es so sanft wie möglich, denn sie wollte diese junge Frau, deren Leben so plötzlich von einer Tragödie heimgesucht worden war, nicht kränken. Zudem hatte sie Dinge erfahren müssen, auf die sie niemand vorbereitet hatte und mit denen sie unter anderen Umständen niemals konfrontiert worden wäre. »Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ich mich weiterhin umgehört habe, auch nach den Umständen von Mr. Baltimores Tod.«
Livia saß reglos da. »Ja?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie blinzelte, ohne auf die Tränen zu achten, die ihr in den Augen standen.
Hester tat, als bemerkte sie es nicht. »Ich bin zu dem Haus in der Leather Lane gegangen, wo man seine Leiche gefunden hat«, sagte sie ernst. Sie kannte Livia nicht gut genug, um sich ihr aufzudrängen. »Ich habe mit den Leuten dort gesprochen, und sie haben mir gesagt, dass sie nichts damit zu tun haben. Er starb woanders und wurde dorthin geschafft, um sie mit hineinzuziehen und, wie ich vermute, den Verdacht von jemand anderem abzulenken.«
»Glauben Sie ihnen?« Livias Stimme verriet weder Zustimmung noch Ablehnung, als versuchte sie mit aller Macht, sich nicht allzu viele Hoffnungen zu machen.
»Ja«, sagte Hester.
Livia entspannte sich und lächelte unwillkürlich.
Hester empfand so heftige Schuldgefühle, dass sie sich fragte, ob sie überhaupt in diesem Haus sein und der jungen Frau Dinge erzählen sollte, die wahr waren und doch bei weitem nicht die ganze Wahrheit. Das, was die junge Frau hier erfuhr, würde die Erinnerungen an Glück und Unschuld ihrer Jugend für immer zerstören.
»Dann ist er vielleicht einfach auf der Straße überfallen worden?«, fragte Livia, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. »Der Mörder meines Vaters wollte Mr. Smith eine alte Geschichte heimzahlen und natürlich selbst der Verfolgung entkommen. Haben Sie das der Polizei gesagt?«
»Noch nicht«, sagte Hester vorsichtig. »Ich möchte zuerst noch mehr erfahren, damit sie mir auch glauben. Wissen Sie, warum er in der Gegend um die Farringdon Road war? War er dort öfter?«
»Ich habe keine Ahnung.« Livia blinzelte ein paar Tränen weg. »Papa ist oft abends weggegangen, mindestens zwei- oder dreimal die Woche. Manchmal in seinen Club, aber meistens aus geschäftlichen Gründen. Er war … ich meine, wir waren …« Sie schluckte, als die Erkenntnis sie wieder überwältigte. Sie zwang sich, ihre Stimme ruhig zu halten. »Wir stehen kurz vor einem großen Durchbruch. Er hat hart dafür gearbeitet; es schmerzt uns, dass er nicht mehr da ist, um den Erfolg zu erleben.«
»Die Eröffnung der neuen Eisenbahnstrecke in Derbyshire?«, fragte Hester.
Livia machte große Augen. »Sie wissen davon?«
Hester merkte, dass sie zu viel verraten hatte. »Ich habe es wohl jemanden erwähnen hören«, erklärte sie. »Schließlich sind der weitere Ausbau von Verkehrswegen und neue, bessere Eisenbahnverbindungen von allgemeinem Interesse.« Das Mädchen kam mit dem Tee herein, und Livia dankte ihr und entließ sie. Sie wollte selbst einschenken.
»Es ist sehr aufregend«, meinte sie und reichte Hester eine Tasse. Einen Augenblick verriet ihre Miene gemischte Gefühle – ein Hochgefühl, das Gefühl, kurz vor der Vollendung einer wunderbaren Neuerung zu stehen, und gleichzeitig Trauer um den Verlust des Vertrauten.
Hester war sich nicht sicher, ob es um Baltimores Tod ging oder um Monk, aber sie war begierig, mehr zu erfahren. »Wird das für Sie Veränderungen bedeuten? Dieses Haus ist bezaubernd. Man könnte sich nur
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