Tod eines Fremden
treffen. Er wurde nicht von einer ambitionierten Mutter oder Schwester dirigiert, da war Hester sich ganz sicher. Es waren vielmehr Margarets Gefühle, um die sie sich sorgte.
»Ich arbeite dort in der Gegend in einer Wohltätigkeitseinrichtung«, fuhr Margaret fort. Ihre Freimütigkeit ließ Marielle zusammenzucken, während ihr Mann zunächst verblüfft und dann unglücklich dreinschaute.
»Wirklich, Margaret …«, sagte er missbilligend. »Ein wenig Geld für die Armen zu sammeln ist eine Sache, aber du solltest dich persönlich nicht zu sehr engagieren, meine Liebe …«
Margaret überhörte ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit weiter auf Boyd. »Mrs. Monk war als Krankenschwester auf der Krim«, fuhr sie unerbittlich fort. »Sie bietet Frauen, die sich keinen Arzt leisten können, medizinische Hilfe. Ich habe die Ehre, ihr, so gut ich kann, zu helfen und Geld für Miete und Medikamente zu sammeln.«
»Bewundernswert«, sagte Boyd aufrichtig. »Ich verstehe nicht, was ich beitragen kann, abgesehen von Geld, was ich Ihnen gerne anbiete. Was hat die Sache mit Nolan Baltimore damit zu tun? Er war gut situiert, aber auch wieder nicht so gut. Zudem ist er jetzt, wie Sie bemerkten, tot.«
Hester beobachtete sein Gesicht, konnte aber keinen persönlichen Kummer und keine Spur von Überraschung oder Bestürzung darin erkennen. Ebenso wenig die halbwegs erwartete Empörung.
»Er wurde umgebracht«, fügte Margaret hinzu. »Wie Sie sich vorstellen können, hat das in der Gegend für Wirbel gesorgt, starke Polizeipräsenz …«
»Das ist doch klar!«, sagte Marielle heftig und trat einen Schritt vor, als wollte sie sich zwischen Margaret und Hester drängen, die schuld an dieser bedauernswerten Entwicklung ihrer Schwester war. »Es ist zutiefst schockierend, dass ein ehrbarer Mann auf der Straße von unmoralischen und räuberischen Kreaturen, die an solchen Orten leben, überfallen und ermordet wird.« Sie wandte Hester die Schulter zu. »Ich weiß nicht, warum du überhaupt über solche Dinge reden willst, Margaret. Noch nie warst du im Gespräch so kühn.« Sie sah Boyd an. »Ich fürchte, Margarets weiches Herz lenkt sie zuweilen in merkwürdige, um nicht zu sagen unangebrachte Bahnen …«
»Marielle …«, setzte Mr. Courtney an.
»Es ist nicht notwendig, dass du dich für mich entschuldigst!«, fuhr Margaret dazwischen. Dann sah sie Boyd freimütig an und fuhr, bevor ihre Schwester etwas sagen konnte, fort: »Mr. Boyd, Mrs. Monk und ich haben Grund zu der Annahme, dass Mr. Baltimore womöglich von einem Konkurrenten und nicht von einer Prostituierten ermordet wurde.« Dass Marielle hier nach Luft schnappte, ignorierte sie beflissen. »Und wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie erzählen würden, was Sie möglicherweise über seine geschäftlichen Interessen und seinen Charakter gehört haben. Ist es möglich, dass er sich mit jemandem, mit dem er geschäftlich zu tun hatte, an einem Ort wie der Leather Lane oder deren Umgebung treffen wollte und nicht in seinem Büro?«
Hester fühlte sich verpflichtet, ihr beizustehen. »Was seine Familie über seine geschäftlichen Interessen und sein Verhalten sagt, wissen wir. Ich bin mit seiner Tochter bekannt. Aber ihre Sicht ist wenig hilfreich, weil sie befangen ist. Was für einen Ruf hatte er denn in der Stadt?«
»Sie sprechen sehr offen, Mrs. Monk.« Boyd richtete den Blick auf sie, und sie wusste augenblicklich, dass er es aus Respekt gesagt hatte und nicht aus Missbilligung, obwohl immer noch ein leichter Anflug von Humor in seinen Augen war. Sie stellte fest, dass sie ihn mochte. Wäre sie an Margarets Stelle und hätte Oliver Rathbone noch nicht kennen gelernt, hätte sie sich womöglich äußerst unbehaglich gefühlt, diesem Mann dermaßen aufgedrängt zu werden, statt ihn von sich aus gewählt zu haben. Seine nähere Bekanntschaft könnte sich als höchst vergnüglich erweisen.
»Genau«, sagte sie. »Die Angelegenheit duldet keine Missverständnisse. Ich bitte um Verzeihung, wenn es Sie kränkt.« Sie wusste, dass dem nicht so war. »Ich fürchte, meine guten Manieren haben durch die Arbeit in der Krankenpflege etwas gelitten.« Plötzlich lächelte sie ihn breit an. »Das ist untertrieben. Ich hatte nie welche.«
»Dann sollte ich Ihrem Beispiel folgen«, antwortete er mit einer angedeuteten Verbeugung. Seine Augen funkelten. »Nolan Baltimore war ein Mann mit großen Zielen, und er nahm außerordentliche Risiken auf sich, um sie zu erreichen. Er
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