Tod eines Fremden
schwerlich etwas Schöneres denken.« Sie griff nach ihrer Tasse und trank den heißen, duftenden Tee.
Livia lächelte. Es machte ihre Züge weicher und ließ sie wie das junge, etwas schüchterne Mädchen aussehen, das sie vor einem Monat noch gewesen sein musste. »Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Ich bin hier stets glücklich gewesen. Aber mein Bruder versichert mir, dass es dort, wo wir hinziehen, noch besser ist.«
»Sie ziehen um?«, fragte Hester überrascht.
»Wir werden dieses Haus für die Londoner Saison behalten«, erklärte Livia mit einer leichten Handbewegung. »Aber unser Wohnsitz soll in Zukunft ein großes Landgut sein. Das Einzige, was die Sache trübt, ist die Tatsache, dass mein Vater nicht mehr hier ist. Er wollte das alles für uns bauen. Es ist so ungerecht, dass er den Lohn für seine lebenslange Arbeit, für die er alles riskiert und in die er all sein Können gesteckt hat, nicht erhalten soll.« Sie griff ebenfalls nach ihrem Tee, ohne jedoch davon zu trinken.
»Er muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein«, meinte Hester und hatte dabei das Gefühl, ihre Heuchelei müsste ihr ins Gesicht geschrieben stehen. Denn sie verachtete Baltimore.
»Allerdings«, sagte Livia, die das Lob so bereitwillig entgegennahm, als könnte es das Herz ihres Vaters noch immer erwärmen.
Hester fragte sich, wie gut Livia ihn gekannt hatte. War die Veränderung ihres Tonfalls der Tatsache geschuldet, dass sie weniger aus der Erinnerung, sondern vielmehr aus Wunschdenken schöpfte?
»Er muss sehr klug gewesen sein«, sagte Hester. »Und sehr energisch. Ein schwacher Mann wäre niemals fähig gewesen, andere so zu befehligen, wie das für den Bau einer Eisenbahn notwendig ist. Jedes Zeichen von Unentschlossenheit, jede Abweichung von Prinzipien, und er wäre gescheitert. Man muss einen solchen Geist … bewundern.«
»Ja, er war sehr stark«, sagte Livia gefühlvoll. »In Papas Nähe fühlte man sich immer beschützt, solch eine Sicherheit strahlte er aus. Ich nehme an, das ist bei Männern so – zumindest bei den besten, denen mit Führungsbefähigung.«
»Ich glaube, die Führungspersönlichkeiten sind diejenigen, die uns ihre Unsicherheiten nicht sehen lassen«, antwortete Hester. »Denn kann jemand, der seinen eigenen Entscheidungen nicht traut, von uns erwarten, dass wir ihm bereitwillig folgen?«
Livia dachte einen Augenblick nach. »Sie haben Recht«, sag te sie mit einem plötzlichen Verständnis. »Wie scharfsinnig Sie sind. Doch, Papa war immer … ich glaube, mutig ist das rich tige Wort. Ich weiß heute, dass er, als ich noch ein Kind war, schwere Zeiten hatte. Viele Jahre haben wir auf den großen Erfolg gewartet. Und jetzt steht er vor uns.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Es ist nicht nur die Eisenbahnlinie, wissen Sie, es ist eine neue Erfindung, die mit rollendem Material – also Waggons und Güterwagen und so weiter – zu tun hat. Ich bitte um Verzeihung, falls ich Ihnen Dinge erzähle, die Sie schon wissen.«
»Keineswegs«, versicherte ihr Hester. »Ich weiß nur, was man im Allgemeinen so lesen oder aufschnappen kann. Welche Art von Erfindung?«
»Ich fürchte, das weiß ich nicht so genau. Papa hat zu Hause nur wenig darüber erzählt. Er und mein Bruder Jarvis haben bei Tisch nicht über Geschäftliches geredet. Er hat immer gesagt, es schicke sich nicht, in Gegenwart von Damen darüber zu sprechen.« In ihren Augen war der Schatten einer leichten Unsicherheit, aber noch kein Zweifel. »Er war der Meinung, man sollte Familie und Geschäft voneinander trennen.« Ihre Stimme verlor sich. »Das war ihm sehr wichtig … dass das Zuhause ein Ort des Friedens und der Güte bleiben und nicht von Geld und geschäftlichen Problemen gestört werden sollte. Wir haben über das wirklich Wichtige gesprochen: Schönheit und Klugheit, die Erforschung der Welt, die Sphären des Geistes.«
»Wie wunderbar für Sie«, sagte Hester und gab sich Mühe, ehrlich zu klingen. Sie wollte Livias Gefühle nicht verletzen, aber sie wusste, dass wahre Schönheit nur möglich war, wenn man eine Wahrheit anstrebte, die Hässlichkeit und Schmutz mit einbezog. Aber darüber zu sprechen war weder die Zeit noch der Ort. »Sie waren wohl sehr glücklich«, fügte sie hinzu.
»Ja«, meinte Livia, »das waren wir.« Sie zögerte und trank einen Schluck Tee.
»Mrs. Monk …«
»Ja?«
»Halten Sie es für wahrscheinlich, dass die Polizei je herausfinden wird, wer meinen Vater umgebracht hat?
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