Tod eines Fremden
Jahre älter als diese. Sie sah auf durchschnittliche Weise gut aus und strahlte eine äußerste Zufriedenheit aus mit dem, was sie umgab. Sie war modisch, aber unauffällig gekleidet, als habe sie das nicht nötig, um bemerkt zu werden.
Sobald sie Margaret sah, trat sie vor und strahlte vor Freude übers ganze Gesicht. Entweder freute sie sich wirklich, ihre Schwester zu sehen, oder sie war eine äußerst begabte Schauspielerin.
»Meine Liebe!«, sagte sie und gab Margaret einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann trat sie einen Schritt zurück, um sie mit großem Interesse zu betrachten. »Wie schön von dir, herzukommen. Es ist schon viel zu lange her. Ich schwöre, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben!« Sie wandte sich an Hester. »Sie müssen Mrs. Monk sein, Margarets neue Freundin.« Dieses Willkommen war bei weitem nicht so herzlich – in Wahrheit war es kaum höflich zu nennen. In ihren Augen lag Zurückhaltung. Hester erkannte mit einem Blick, dass Marielle Courtney sich überhaupt nicht sicher war, ob sie es gutheißen sollte, dass Hester so viel Einfluss auf ihre Schwester hatte. Womöglich hatte sich ihr eigener dadurch verringert, und das nicht unbedingt mit den gewünschten Folgen. Und dass sie Hester sozial nicht einordnen konnte, wurde bei der Einschätzung ihrer Vorzüge negativ bewertet.
»Guten Abend, Mrs. Courtney«, antwortete Hester mit einem höflichen Lächeln. »Ich halte so viel von Margaret, dass es mir eine große Freude ist, ihre Verwandten kennen zu lernen.«
»Nett von Ihnen«, murmelte Marielle und wandte sich an den Mann, der rechts hinter ihr stand. »Darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen? Mr. Courtney.«
»Guten Abend, Mrs. Monk«, antwortete er pflichtschuldig. Er hatte ein langweiliges Gesicht und war annähernd vierzig, bereits ein wenig korpulent, aber voller Selbstvertrauen und bereit, die Familie seiner Frau und deren Gäste einigermaßen korrekt zu empfangen.
Die dritte Person im Zimmer war diejenige, wegen der sie hier waren, der Mann, der ihnen womöglich mehr über Nolan Baltimore erzählen konnte. Er war schlank und von ungewöhnlicher Erscheinung. Das dicke Haar hatte er sich aus der hohen Stirn zurückgekämmt, an den Schläfen war es leicht grau, was andeutete, dass er älter war, als sein ungezwungenes Verhalten und seine elegante Kleidung vermuten ließen. Seine Züge waren adlerartig, sein Mund humorvoll. Marielle stellte ihn als Mr. Boyd vor und machte dabei mehr Getue um Margaret, als Hester erwartet hatte.
Sie sah, dass Margaret sich innerlich zusammenzog und ihre Wangen sich röteten, obwohl sie ihr Unbehagen so gut wie möglich verbarg.
In aller Formalität wurden die üblichen Erfrischungen herumgereicht. Marielle lud sie ein, zum Abendessen zu bleiben, doch Margaret lehnte, ohne Hester zu fragen, ab, indem sie eine Verpflichtung vorbrachte, die es nicht gab.
»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie hergekommen sind, um uns mit Ihren Informationen weiterzuhelfen, Mr. Boyd«, sagte sie ein wenig umständlich. »Ich hoffe, es verdirbt Ihnen nicht den Abend.«
»Keineswegs, Miss Ballinger«, antwortete er mit einem leichten Lächeln. Schalk blitzte ihm aus den Augen, als sehe er einen Witz, der zwar unausgesprochen blieb, über den man sich jedoch gemeinsam amüsieren konnte. »Bitte, sagen Sie mir, was Sie wissen wollen, und wenn ich Ihnen eine Antwort darauf geben kann, will ich das gerne tun.«
»Ich verstehe die Vorbehalte«, sagte sie hastig. »Ich bin mir sicher, Sie wissen, dass Mr. Baltimore vor etwas mehr als zwei Wochen … in der Leather Lane auf tragische Weise ums Leben kam?«
»Ja.« Falls er Widerwillen empfand, dann war er zu wohlerzogen, ihn sich anmerken zu lassen.
Hesters Achtung vor ihm stieg. Sie sah, wie Marielle mit regem Interesse immer wieder zwischen Boyd und Margaret hin und her blickte, als könnte sie etwas von höchster Bedeutung feststellen. Blitzartig wurde Hester klar, warum Margaret von zu Hause wegwollte: Sie wollte dem Druck entkommen, wie Marielle und – falls sie noch welche hatte – ihre anderen Schwestern eine angemessene Ehe eingehen zu müssen. Hester erinnerte sich, dass eine jüngere Schwester erwähnt worden war, die zweifellos ungeduldig darauf wartete, an die Reihe zu kommen.
War Boyd sich dessen bewusst? Wusste er, dass er freundlich, aber beharrlich in die gewünschte Richtung gedrängt wurde? Er machte den Eindruck, als wäre er durchaus in der Lage, seine eigenen Entscheidungen zu
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