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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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München Stadion ging. Die Fußballsamstagnachmittage dröhnten vor Einsamkeit. Als Kioskverkäufer stand mir die gesamte Porno-Produktion kostenlos zur Verfügung. Eine Stelle in der Bahnhofsbuchhandlung war nicht zu ergattern. Dostojewski wurde fast wahnsinnig, wenn er nach einem Anfall eine Woche lang nichts lesen konnte. Ich habe seit unzähligen Jahren praktisch nichts mehr gelesen. Von zwölf bis zwanzig alles. Dann die Tonnen. Seit dem Schluß. Warum ausgerechnet ich Schriftsteller werden will, ist von allen Fragen der Welt die rührendste. Ich werde soviel lesen, wie physisch überhaupt möglich ist. Dann gleich die Frage: Wird es nicht doch verlorene Zeit sein? Dann aber sofort die Gegenfrage: Wieso ich, der Herumlungerer schlechthin, Angst habe vor verlorener Zeit? Und schon frage ich weiter: Darf ich mir doch einbilden, keine Lebensminute vertan zu haben, weil ich in Gedanken immer bei der gerade geliebten Frau war, und wenn nicht bei ihr, dann in Stratford upon Avon oder im Petersburg Dostojewskis? Whatever gets you through the night, it’s alright. Die Mutter schreibt: Der Vater ist abends erschöpft. Gestern vorm Fernseher eingeschlafen. Aber es kommt ja viel Geld herein. Das Auto werden wir bis Jahresende abbezahlt haben. Wenn der Vater durchhält. Und hat noch Ärger mit seiner Mutter. Die ist immer noch nicht mit dem Geld zufrieden, das er ihr überweist. Es gibt keine Entschuldigung dafür, daß ich mich nicht als Hilfsarbeiter durchs Leben schlage. Vielleicht operiere ich instinktiv so, daß ich – als Schriftsteller – nicht der Vermittlung, die die Psychoanalyse bietet, entraten kann. Das heißt eben gar nicht, daß ich mich behandeln lasse. Warum auch? Bin ich nicht im wahrsten Sinn des Wortes kerngesund? Gratwanderung. Solche Wörter gibt es. Nicht ohne Grund. Die Jungschwester in der Nussbaumstraße sagte, als ich ihr mitteilte, daß ich ein alles umfassendes Romanwerk plane: Genau das erwarte ich von Ihnen. Mir schoß es durch den Kopf: Und wenn Literatur heißt, das zu schreiben, was nicht erwartet wird!? Poesie, kommt mir vor, das sind die Momente, wo es uns den Kopf herumreißt, daß wir aller Unvereinbarkeiten ledig sind. Ich war mit drei Jahren schon weiter als alle Psychotherapeuten Bayerns je kommen. Und mein Greisentum lichtet sich. Dr. Swoboda zu mir: Ihre Weltliteraturträume sind Versteckungsmechanismen, um Ihren Wunsch, von anderen versorgt zu werden, zu verstecken. Ich werde aber den endgültigen Stalingradroman schreiben. Als ich mit vierzehn die Bilder mit toten deutschen Soldaten in Stalingrad sah, kriegte ich immer Erektionen. Dr. Swoboda: Wenn der Vater fällt, ist der Weg zur Mutter frei. Aber schreiben kann nur, wer liest. Und ich habe jedesmal, wenn ich zu lesen versuche, das Gefühl, ich hätte beide Füße im Feuer und sie seien schon halb verbrannt. Also muß ich aufspringen. Rennen. Hin und her. Dann Fernsehen. Die Nervenheilanstalt hat nichts Erschreckendes mehr. Mein Lieblingswort: Irrenhaus. Auch wenn ich frei herumlaufe, trage ich mein Gefängnis mit mir. Die Literatur wäre das Tor ins Freie. Ich trage ein Werk in mir, das will heraus. Und ich soll dafür sorgen. Leider kommt mir zur Zeit die Arbeit an einem und sei es noch so großen Werk sinnlos vor, wenn sie mir nicht hilft, eine Frau zu erobern. Geneviève, zum Beispiel. Als sie zwischen Isar und Erich Schmid-Straße auf mich zukam, hätte sie doch nicht so tun dürfen, als erinnere sie sich nicht mehr daran, daß sie mir in aller Öffentlichkeit, vom Fernsehschirm her, einen Kuß zugeworfen hat! Und dann: Wer bist denn du scho! Wenn einen das nicht erbittern und dann eben zu Tätlichkeiten hinreißen darf! Als Übergang plane ich, in der Buchhandlung in Gauting zu arbeiten. Darin sind sich die Psychologen einig: mich auf eigene Füße stellen. Wenn die dann bloß nicht wieder Feuer fangen. Aber bitte, ich werde in der Buchhandlung in Gauting arbeiten und nachts schreiben. Wenn es sich nicht herausstellt, daß die Gegenwart meiner Mutter für mich als Gefühlsnahrung unerläßlich ist, das hieße, ich muß bis zu ihrem Tod bei ihr leben. Herrn Pilgrim habe ich über meine Pläne informiert, er weiß, daß er sich an meinem Werk eine goldene Nase verdienen wird. Wenn der edle Pilgrim Zicken macht, sofort zu Hanser. Mir Michael Krüger vorzustellen, ist für mich fast ein Genuß. Ich werde ihn und Pilgrim fragen: Was halten Sie von meinen Vorbildern Bernt Streiff, Rolf Hochhuth und Else Lasker-Schüler? Sind

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