Tod eines Lehrers
auf die Sprünge helfen, indem wir Dinge sehen, die eurem Auge verborgen bleiben. Mir macht’s jedenfalls Spaß.«
»Spaß! Ihr habt wirklich einen seltsamen Humor.« »Das bringt der Beruf mit sich.« Sie setzte sich auf und sahBrandt herausfordernd an. »So, entweder fangen wir jetzt an oder schlafen. Was nun?«
»Anfangen.«
Sonntag, 9.50 Uhr
A ndrea war in seinem Arm eingeschlafen und lag jetzt auf der Seite, sie hatte ihm den nackten Rücken zugewandt. Einen Teil der Bettdecke hatte sie zwischen den Beinen eingeklemmt, der restliche bedeckte ihren Oberkörper. Er betrachtete sie im Licht der tief stehenden Wintersonne, die kaum eine Chance hatte, den dichten Stoff der Vorhänge zu durchdringen. Dennoch sah Brandt genug von ihr, und er war versucht, über ihren Rücken zu streichen, doch er wollte sie nicht aufwecken, auch wenn er kaum länger als fünf Stunden geschlafen hatte. Aber er vermisste den Schlaf nicht, er kam sich vor wie in einer anderen Welt. Er hatte das Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihn so akzeptierte, wie er war und wie er lebte. Ein Einzelgänger mit zwei heranwachsenden Töchtern, ein wenig verbittert und enttäuscht nach dem schmutzigen Scheidungskrieg, den seine Ex angezettelt hatte. Doch das war Schnee von gestern, der seit Freitagnacht immer mehr zu tauen schien. Er fragte sich nur, wieso es geschlagene drei Jahre dauern musste, bis sie endlich über belanglose Plaudereien und bisweilen derbe Witze in der Pathologie zueinander gefunden hatten. Doch wie schnell das plötzlich gegangen war, hatte selbst ihn überrascht, er, der kein Freund spontaner Entscheidungen war. Aber eigentlich war es keine spontane Entscheidung. Sie hatten sich ja nicht erst am Freitag kennen gelernt, sondern bereits vor einer halben Ewigkeit. Er hatte sich schon lange in sie verguckt, aber sich nicht getraut, ihr das auch zu zeigen, und bei ihr war es das Gleiche gewesen, auch wenn sie immer wieder Signale ausgesendet hatte, die er jedoch nicht verstanden hatte. Oder nicht verstehen wollte. Oder konnte. Schnee von gestern.
Brandt stand leise auf, nahm seine Sachen vom Boden und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Er hatte gestern eine Bäckerei auf der andern Straßenseite gesehen, vielleicht hatte sie ja offen. Diesmal würde er Brötchen holen, den Tisch decken und Kaffee kochen, mit ihr zusammen frühstücken und um die Mittagszeit zu seinen Eltern fahren, um Sarah und Michelle … Nein, dachte er, die müssen noch dort bleiben. Ihm schoss plötzlich eine Idee durch den Kopf, wie er die zweite Person ausfindig machen konnte, die zusammen mit Anja Russler die Taten begangen hatte. Er nahm den Schlüssel vom Brett, lehnte die Tür nur an und eilte nach unten und über die Straße. Im Geschäft waren drei Verkäuferinnen damit beschäftigt, Kunden zu bedienen. Brandt kaufte vier Brötchen und zwei Croissants. Die sonst für ihn obligatorische
Bild am Sonntag
ließ er liegen, da er sowieso keine Zeit gehabt hätte, sie zu lesen. Vor der Bäckerei holte er sein Handy aus der Jackentasche. Zwei Mitteilungen seiner Mutter waren auf seiner Mailbox. Er musste lachen und tippte die Nummer seiner Eltern ein.
»Hi, ich bin’s …«
»Peter, wo steckst du denn?«, fragte seine Mutter. »Ich habe schon ein paarmal versucht, dich zu erreichen, aber …«
»Mama, ich bin mitten bei der Arbeit und hatte das Handy ausgeschaltet. Hör zu, ich kann erst heute Abend kommen, vielleicht aber auch erst morgen. Ich stehe kurz davor, einen ganz wichtigen Fall zu lösen, und wenn ich jetzt nicht am Ball bleibe, verliere ich vielleicht die Spur. Ich wollte ja gestern Abend noch anrufen, aber es ist so spät geworden.«
»Warst du gar nicht zu Hause? Ich habe nämlich um elf bei dir angerufen.«
»Mama, ich habe Bereitschaft«, schwindelte er, weil er sich nicht traute, ihr die Wahrheit zu sagen, obwohl er wusste, dass sie diese Wahrheit längst kannte. »Tu mir doch bitte einen Gefallenund sag Papa, dass er mit Sarah und Michelle nachher mal kurz rüber in die Wohnung fährt, damit die beiden sich ein paar Sachen holen können. Geht es ihnen gut?«
»Sarah schläft noch, und Michelle sitzt vor dem Fernseher. Und jetzt mach dir keine Gedanken, bei uns sind sie gut aufgehoben. Willst du Michelle sprechen?«
»Gib sie mir mal kurz. Bis dann und ciao. Und vielen Dank.«
»Hallo, Papa«, sagte Michelle. »Wo bist du?«
»Ich muss ausnahmsweise mal das ganze Wochenende arbeiten. Ihr müsst also bis morgen
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