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Tod eines Lehrers

Tod eines Lehrers

Titel: Tod eines Lehrers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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ihrer Mutter und so weiter. Ich sehe einen Menschen und kann dir innerhalb von ein paar Sekunden sagen, wie es in ihm ausschaut.Mir bleibt nichts verborgen. Nur wenige haben eine Mauer um sich gebaut, wo mir das nicht gelingt.«
    »Machst du das bei jedem?«, fragte Teichmann vorsichtig.
    »Nur bei denen ich es will. Oder sagen wir es so, nur bei denen, bei denen ich merke, dass sie etwas zu verbergen haben.«
    »Und was ist mit mir?«
    »Was soll mit dir sein? Du bist mein Mann, und ich würde niemals versuchen, deine geheimsten Gedanken zu erkunden.«
    »Aber bei Rudolf hast du es gemacht. Sag mir jetzt, was du gesehen hast.«
    »Er war ein sehr frustrierter Mann, er hat es aber keinem gezeigt.«
    »Rudolf und frustriert? Weswegen hätte er frustriert sein sollen? Er hatte eine tolle Familie, er war beliebt …«
    »Ich habe dir nur gesagt, was ich gesehen habe. Ich denke, er hat gespürt, dass zwischen uns eine Barriere ist. Deswegen war er auch nicht mein Patient.«
    »Nein, warum auch, schließlich ist Dr. Müller schon seit ewigen Zeiten der Hausarzt der Schirners.«
    »Carmen ist aber meine Patientin. Und jetzt lass uns bitte damit aufhören. Weißt du, keiner von uns zeigt sich den andern so, wie er wirklich ist. Jeder hat ein geheimes Zimmer, zu dem kein anderer Zutritt hat. Du hast es, ich habe es, wie gesagt, jeder hat so ein Zimmer. Mach dir keine Gedanken darüber.«
    »Aber wieso warst du nicht gerne in Rudolfs Nähe? Ich dachte immer, wir und seine Familie wären die besten Freunde.«
    »Mit Helga hätte ich mich niemals anfreunden können. Sie lebt in einer anderen Welt, und diese Welt möchte ich gar nicht erst kennen lernen. Über was spricht sie denn, wenn wir bei ihnen sind oder sie bei uns? Über das Haus, den Garten, die Wohnung, die Kinder, das Wetter. Und alles muss perfekt sauber sein, alles muss eine heile Welt darstellen. Sie ist eine arme Frau, denn sie ist innerlich tot. Ein Mensch, der immer nur nach Ritualen lebt, ist tot. Das ist wie bei einem Zombie. Da ist keine Lebensfreudemehr, keine Energie, kein Elan, keine Spontaneität, nur noch blanke Routine. Aber irgendwann war sie einmal anders. Sie wurde nicht so geboren, sie ist im Laufe der Jahre so geworden. Ich wette mit dir, Rudolf und sie hatten schon seit vielen Jahren keinen Sex mehr. Dass sie jetzt die ganze Zeit nur putzt, kocht und wäscht ist ihre Ersatzbefriedigung, doch dass sie so ist, ist nicht allein ihre Schuld.«
    »Aber sie scheint doch in ihrer Welt glücklich zu sein. Warum sollte man sie da rausholen?«
    »Wer sagt denn, dass man sie da rausholen soll? Sie muss den Anfang machen, und jetzt, wo Rudolf tot ist, wacht sie vielleicht endlich auf. Warst du eigentlich schon bei ihr?«
    »Nein, das wollte ich heute noch nicht. Morgen werde ich mal bei ihr vorbeischauen und ihr mein Beileid ausdrücken. Ich nehme an, dass Carmen sich um sie kümmern wird.«
    Das Essen kam, und während sie langsam aßen, unterhielten sie sich über die bevorstehenden Wochen und Monate, wie die Zeit nach der Geburt des Babys aussehen würde.
    Gegen zweiundzwanzig Uhr verließen sie das Restaurant und fuhren nach Hause. Auf der Fahrt sprachen sie kein Wort, jeder hing seinen Gedanken nach. Sie wurden bereits von Dina erwartet, die schon sehnlichst auf den allabendlichen Spaziergang wartete. Natalia begab sich nach oben, entkleidete sich und sagte zu ihrem Mann, er solle heute nicht so lange draußen bleiben, sie warte auf ihn.

Mittwoch, 22.15 Uhr
     
    E berhard Teichmann ging den Weg, den nicht einmal vierundzwanzig Stunden zuvor sein Freund Rudolf Schirner genommen hatte und den auch er mit verbundenen Augen hätte gehen können, schließlich lebte er seit über dreißig Jahren in Langen. Er war in Darmstadt geboren, doch als er dreizehnwar, kaufte sein Vater ein Haus, in dem sie bis vor zehn Jahren wohnten. Sein Vater hatte im Laufe seines sechzigjährigen Lebens viele Häuser gekauft und gebaut, doch als er sich vor zehn Jahren in einem Anfall tiefster Depression in seinem Arbeitszimmer erhängte, hatte er, ein notorischer Spieler, fast sein gesamtes Vermögen und alle Häuser bis auf zwei verloren, was schließlich der Grund für seinen Freitod war. Teichmanns Mutter hatte sich auf und davon gemacht, als er zwanzig war und gerade mit seinem Studium begonnen hatte, und er wusste bis heute nicht, wo sie sich aufhielt, ja, ob sie überhaupt noch lebte. Teichmann verkaufte eines der Häuser, die sein Vater ihm wenige Minuten vor seinem Tod

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