Tod eines Lehrers
Arm auf der Lehne, den andern auf dem linken Oberschenkel. Seine Stimme wurde eine Spur schärfer und härter. »Sie fragen mich ja gar nicht, wer dieses Mädchen war. Warum nicht?«
Schweigen.
»Frau Esslinger, Sie sind doch sonst so wortgewandt, genau wie Sie, Frau Schirner. Aber ich kann mir schon denken, warum Sie nichts sagen, weil Sie nämlich genau wissen, von wem ich spreche. Das ist jetzt etwa drei Monate her, aber die beiden Lehrer haben das Mädchen nicht lange überlebt. Und ich frage mich jetzt, ob sie die Einzige war, oder ob es noch andere gibt, denen Ähnliches widerfahren ist. Für mich steht jedenfalls fest, dass Maureen Neihuus sich aus nackter Verzweiflung über ihre ausweglose Situation das Leben genommen hat.« Er hielt inne und sah erst Kerstin, dann Silvia an, die beide sehr nervös wirkten. Kerstin liefen ein paar Tränen übers Gesicht, stumme Tränen. Er wusste, er hatte ins Schwarze getroffen, und fuhr noch schärfer als eben fort, die Stirn in Falten gezogen: »Ich frage Sie jetzt alle – wussten Sie von dem Leid Ihrer Freundin?«
Schweigen, lautes, dröhnendes Schweigen.
»Sie wussten es, da bin ich sicher, aber ich kann mir Ihr Schweigen nicht erklären. Haben Sie Angst? Und wenn, wovor? Maureen Neihuus hat Angst gehabt, höllische Angst, und diese Angst hat sie in den Tod getrieben. Und sie fühlte sich gedemütigt und missbraucht. Sie hat geglaubt, ihr ganzes Leben sei vorbei,denn es gab ja niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, höchstens ihren besten Freundinnen. Doch diese Freundinnen waren ebenso hilflos, weil auch sie mit ihren Eltern nicht reden konnten. Habe ich Recht, Frau Abele? Und bei Ihnen, Frau Esslinger, wird es wohl kaum anders sein. Wie heißt es doch so schön, es kann nicht sein, was nicht sein darf. Hier ist eine heile Welt, und die lassen sich die Erwachsenen nicht zerstören. Die Nachbarn könnten ja tuscheln und mit dem Finger auf einen zeigen. Es könnte ja sein, dass man selbst an den Pranger gestellt wird, weil jemand sagt: Na ja, diese Mädchen von heute, wie die auch immer rumlaufen, so etwas hätte es zu unserer Zeit nicht gegeben. Ich bin keine Frau, ich weiß nicht, wie es ist, so gedemütigt und zu Dingen genötigt zu werden, die nur ekelhaft sind, aber ich versuche es mir vorzustellen, und allein bei dieser Vorstellung kommt in mir die blanke Wut hoch. Aber ich möchte meine Frage von vorhin ausdehnen. Wurden auch Sie, Frau Abele und Frau Esslinger, zu Dingen gezwungen, an die Sie vorher nicht einmal in Ihren schlimmsten Albträumen gedacht hätten?«
Wieder Schweigen.
»Wissen Sie, ich habe zwei Töchter, zwölf und vierzehn, zwei sehr hübsche Töchter, auf die ich niemals in meinem Leben verzichten möchte. Sie bedeuten mir mehr als mein eigenes Leben, und wenn ich mir vorstelle, irgendjemand würde ihnen ein solches Leid zufügen, das durch nichts wieder gutgemacht werden kann, ich weiß nicht, was ich tun würde, obwohl ich das Gesetz vertrete. Glauben Sie mir, als ich gestern das Video Ihrer Freundin gesehen habe, hat sich mir der Magen umgedreht und in mir war nur noch Wut, Wut und nochmals Wut. War diese Wut auch in Ihnen, als Sie davon erfuhren oder sogar dasselbe erlebten wie Ihre Freundin Maureen?«
Schweigen. Ein paar kurze Blicke. Ein paar Tränen.
»Meine Kollegin, Frau Sievers, ist Rechtsmedizinerin und hat Herrn Schirner und Herrn Teichmann obduziert. Erzähl du doch mal etwas von den Ergebnissen.«
Sie holte tief Luft und sagte: »Herr Schirner wurde mit dreiundachtzig Messerstichen getötet, Herr Teichmann mit sechsundsiebzig.« Sie vermied jedoch, die Kastrationen zu erwähnen. »Ich habe schon viele Leichen auf meinem Tisch liegen gehabt, aber noch keine, die so viele Einstiche aufzeigten. Die Morde tragen eindeutig eine weibliche Handschrift, denn nur Frauen können einen derartigen Hass entwickeln. Außerdem zeigt das Video, dass Maureen Neihuus zum Zeitpunkt der Vergewaltigung, ich nenne es einfach mal so, offensichtlich unter Drogen oder Betäubungsmitteln gestanden hat …«
»Dazu kommt«, wurde sie von Brandt unterbrochen, »dass beide einen Weg gegangen sind, der, so habe ich mir von einem Polizisten sagen lassen, selbst tagsüber kaum frequentiert ist. Nachts schon gar nicht. Und jetzt, bei dieser Kälte, verkriecht man sich sowieso am liebsten zu Hause. Aber der oder die Täter müssen die Gewohnheiten der beiden Männer genauestens gekannt haben. Sie müssen gewusst haben, dass Herr Teichmann und Herr
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