Tod Eines Mäzens
war keine Jungfrau. Der Blick war zu selbstbewusst – und zu herausfordernd. Sie trug auch keine Wunden, weder geistige noch körperliche, die von drei Jahren sexuellen Missbrauchs hergerührt hätten.
»Na, ich denke, Sie haben nicht gelitten. Aber hatten Sie vielleicht Appetit auf etwas Knusprigeres, Herzchen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Die Treppe zu Ihren Privaträumen ist unbewacht und wird, wie ich heute herausfand, wohl auch wenig vom Personal benutzt. Ist da vielleicht ab und zu ein Liebhaber hochgestiegen?«
»Hören Sie auf, mich zu beleidigen.«
»Oh, ich bin voller Bewunderung – für Ihren Mut. Wenn Chrysippus viel in der Bibliothek gearbeitet hat, sind Sie ein ziemliches Risiko eingegangen.«
»Das wäre ich, wenn ich es getan hätte«, erwiderte Vibia barsch. »Aber ich war nun mal zufällig eine keusche und treue Gattin.«
Ich sah sie an und murmelte sanft: »Ach, wie schade!«
Obwohl sie, wie man so sagt, drei Jahre lang die Schlüsselgewalt über dieses Haus gehabt hatte (wobei ich allerdings vermutete, dass Chrysippus ein Mann war, der sich die Schlüssel nicht so leicht abnehmen ließ), fehlte es Vibia an Erfahrung. Sie wusste nicht, wie sie mich loswerden oder ihre Rausschmeißer rufen sollte. Sie saß in der Falle. Selbst wenn ich grob zu ihr war, protestierte sie nur schwach.
»Erzählen Sie mal«, forderte ich sie mit einem strahlenden Lächeln heraus. »Diomedes hat seinen Vater doch oft besucht. Konnte er nach eigenem Gutdünken kommen und gehen?«
»Selbstverständlich. Er ist hier geboren und aufgewachsen.«
»Ah ja! Dem liebenden Sohn war hier also ein Zimmer zugeteilt worden?«
»Es gab ein Zimmer, das immer schon seines war«, erwiderte Vibia frostig. »Seit der Kindheit.«
»Ach, wie süß! In der Nähe von Ihrem, oder?«
»Nein.«
»Entfernung ist ein so fließender Begriff. Ich werde es nicht mit einem Maßband nachprüfen … Wenn er so regelmäßig kam, dachte sich doch bestimmt niemand was dabei?«
»Er war der Sohn meines Mannes. Natürlich nicht.«
»Er hätte auch Sie besuchen können«, wies ich sie hin.
»Sie haben eine schmutzige Fantasie, Falco«, gab Vibia mit dieser Spur von Derbheit zurück, die sie stets davon abgehalten hatte, vollkommen ehrbar zu sein.
»Junge Stiefmama und ein unbeschäftigter Stiefsohn in ihrem Alter – es wäre nicht das erste Mal, dass die Natur sich heimlich Bahn bricht … Jemand hat mir erzählt, Sie hätten mehr von Diomedes gewollt, als es dem Anstand entspricht.«
»Die Person hat mich verleumdet.«
Ich legte den Kopf schräg. »Was, kein heimliches Verlangen?«
»Nein.«
Diese einsilbigen kleinen Verneinungen begannen mich zu faszinieren. Jedes Mal, wenn sie eine aussprach, hatte ich das Gefühl, dass sich ein größeres Geheimnis dahinter verbarg. »Sie haben sich ziemlich rüde über ihn geäußert, als wir Sie zum ersten Mal vernommen haben.«
»Ich hege keinerlei Gefühle für ihn, weder so noch so«, sagte Vibia mit dieser betonten Neutralität, die immer eine Lüge kaschiert. Während dieses Teils der Befragung hatte sie den Blick nicht von dem Orientteppich gewandt.
Ich wechselte abrupt das Thema: »Und was empfinden Sie dabei, dass Diomedes Ihre Verwandte heiratet?«
Für einen kurzen Augenblick schürzte sie die Lippen. »Das hat nichts mit mir zu tun.«
»Lysa sagte, Sie hätten dabei geholfen, die Ehe zu arrangieren.«
»Nicht so direkt.« Sie bemühte sich, die Fassung wiederzufinden. Ich spürte, dass Lysa sie bei dieser Sache stark unter Druck gesetzt hatte. »Als ich gefragt wurde, was ich davon hielt, habe ich keinen Widerspruch erhoben.«
»Und war dieser mangelnde Widerspruch «, wollte ich wissen, »so wichtig für Lysa und Diomedes, dass Sie Ihnen dieses herrliche Anwesen überließen?«
Jetzt schaute Vibia auf. Ja, sie bekam sogar beste Laune. »Lysa ist so verärgert, dass sie es verliert. Das ist überhaupt das Beste daran – sie ist wütend, dass ich weiterhin in ihrem ehemaligen Haus lebe.«
»Als Bezahlung für eine Eheanbahnung«, verkündete ich frei heraus, »ist der Preis horrend. Es erstaunt mich, dass Lysa als Bankbevollmächtigte dem zugestimmt hat.« Keine Reaktion. »Da Sie jetzt eine allein stehende Frau ohne männlichen Schutz sind, was werden Sie, wenn ich fragen darf, mit dem Kinderzimmer Ihres Stiefsohns machen?«
Vibia war mir voraus. »Natürlich verbietet es der Anstand, dass er weiter hierher kommt. Die Leute könnten etwas Skandalöses vermuten. In dem Brief,
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