Tod eines Mathematikers
Lippen. Natürlich war das Rauchen bei Besprechungen streng verboten. Doch im K 31 rauchten so gut wie alle. Und Kühlborn rauchte, wann immer ihm danach war: in Konferenzen, wenn er den Flur entlangwatschelte und sein Körpergewicht mit seinem Gleichgewichtssinn kämpfte. Er wog inzwischen hundertfünfzehn Kilo, bei einer Größe von eins sechsundsiebzig.
»Sie müssen abnehmen«, ermahnte ihn der Polizeiarzt jedes Mal – sein Gewicht näherte sich gefährlich der Dienstunfähigkeitsgrenze.
Doch Kühlborn, der schon lange nicht mehr rausfuhr, um selbst zu ermitteln, sondern nur noch am Schreibtisch saß, die Berichte seiner Leute las und so tat, als wisse er alles besser, dachte nicht daran, abzunehmen. Nicht nur, weil er für sein Leben gern aß. Sein Bauch war sein Schutzschild, den er sich über die Jahre angefuttert hatte.
Unzählige Tote hatte er gesehen: halb verweste Kinderleichen, zerstückelte Frauen und Männer, bis zur Unkenntlichkeit aufgetriebene Wasserleichen, die aufgeplatzt waren wie Bockwürste in zu heißem Wasser. Und stanken, dass man alles gegeben hätte, um nicht in ihrer Nähe sein zu müssen. Der Leichengeruch hielt seine Nase Tag und Nacht besetzt. Er stieg aus den Blättern, wenn Kühlborn in seinem Büro saß und Akten las. Er begleitete ihn in den Schlaf, wenn er stumm neben seiner Frau im Bett lag und im Dunkeln nach ihrer Hand tastete. Selbst wenn das Bett frisch überzogen und die Toten längst begraben waren, wurde er diesen Geruch nicht los. Der Gestank hatte sich ins Hirn gefressen wie ein olfaktorischer Tinnitus.
Nachts suchten ihn die Opfer heim. Kühlborn träumte von dem kleinen Mädchen, das auf dem Schulweg entführt worden war. Er habe die Kleine halt vögeln wollen, hatte der Täter, ein Typ um die vierzig ohne Schulabschluss und Beruf, später zu Protokoll gegeben. Aber sie sei mit ihren sieben Jahren halt noch »zu eng« gewesen. Deshalb habe er das Messer genommen, um sie zu »weiten«.
Kühlborn erzählte niemandem von seinen Albträumen. Nicht seiner Frau. Nicht der Polizeipsychologin, obwohl sie zur Verschwiegenheit verpflichtet war. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er ein Problem hatte. Dass er mit den seelischen Belastungen, die sein Beruf ihm all die Jahre aufgebürdet hatte, nicht mehr klarkam. Redete sich ein, dass es normal war, die Leichen zu riechen und von ihnen zu träumen. Ertränkte seine Gefühle nach Feierabend in Cola-Pernod.
Er war Chef der Mordkommission. Ein harter Kerl, staatlich geprüft. Punkt. Natürlich hätte er sich versetzen lassen können, doch das hätte Kühlborn nicht mit seiner Mannesehre vereinbaren können. Deshalb sehnte er den Tag in zwei Jahren herbei, wenn ihm der Polizeipräsident zu seinem sechzigsten Geburtstag endlich die Entlassungsurkunde in die Hand drücken würde. Und er all dem Bösen, diesem Dreck, dem menschlichen Abschaum, endlich den Rücken kehren konnte.
Eigentlich hatte Kühlborn in den letzten Jahren vor der Pension kürzertreten und sich die Dienstzeit mit Schachspielen vertreiben wollen. Sollten seine Mitarbeiter die Fälle doch klären. Allerdings war sein Vertreter dauernd krank, hatte eine mysteriöse, langwierige Magengeschichte, die die Ärzte nicht in den Griff bekamen. Deshalb leitete Kühlborn auch heute Morgen mal wieder die Besprechung. Musste sehen, wie er klarkam mit sechs Leuten, die jetzt am Tisch saßen. Sechs von zwanzig. Fünf Männer, von denen zwei heute ihren ersten Tag nach dem Urlaub wieder arbeiteten, und eine Frau, Daniela Cremer, eine junge Kommissarin, die erst seit ein paar Monaten im Team war. Eine engagierte, aber unerfahrene Kraft, auf die man nicht bauen konnte. Der Rest seiner Truppe befand sich im Urlaub, bummelte Überstunden ab oder war von irgendwelchen Erkältungsviren niedergestreckt worden.
Kühlborn blies den Rauch durch die Nase. »Dann schieß mal los«, sagte er und blickte Stefan Todt an. Der junge Oberkommissar hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er hatte zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen, weil er sich gemeinsam mit Daniela Cremer um Totenschädel und Selbstmörder hatte kümmern müssen.
»Tja«, leitete Stefan Todt seinen Vortrag ein. »Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr: Der Schädel, den Kollege Tenge von der Schutzpolizei am Weserstrand freige…« Weiter kam er nicht, wurde vom schallenden Gelächter seiner Kollegen unterbrochen. »Von der Schupo lernen, heißt siegen lernen«, wieherte Kühlborn. Wie immer lachte er am lautesten,
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