Tod eines Mathematikers
versteckte seine Empfindsamkeit hinter derben Sprüchen und machohaftem Gehabe. Es dauerte einen Moment, bis sich die Runde wieder beruhigt hatte und Todt fortfahren konnte: »Es ist der Schädel von Nicole Wollenbeck. Das haben sowohl DNA-Analyse als auch Zahnstatus ergeben. Für alle, die damals noch nicht bei der Polizei waren: Nicole Wollenbeck verschwand am 4. April 1990 in Woltmershausen, also vor fast zwanzig Jahren. Sie war damals einundzwanzig Jahre alt und studierte im dritten Semester an der Universität Bremen Mathematik und Sport auf Lehramt.«
»Ach«, fiel Heiner Blum Todt ins Wort. »Eine angehende Mathelehrerin also. Da hat der Mörder ja bloß Schlimmeres verhindert.«
Blum grinste in die Runde, erwartete, dass seine Kollegen ihn mit schallendem Gelächter belohnen würden. Doch die anderen rollten nur mit den Augen. Blum pflegte einen Zynismus, der selbst für hartgesottene Kripoleute schwer auszuhalten war. Außerdem langweilte er alle mit seinem Mathetrauma. Obwohl Blum nun schon in den Vierzigern war und seine Schulzeit inklusive peinvoller Mathestunden über ein Vierteljahrhundert zurücklag, kokettierte er bei fast jeder Gelegenheit damit, dass er eine Fünf in Mathe gehabt hatte. Immer, wenn er etwas nicht kapierte, wie beispielsweise die Bedienung der neuen Espressomaschine, pflegte er zu sagen: »Was erwartet ihr? Ich hatte eine Fünf in Mathe.«
»Das war ja mal wieder eine sehr qualifizierte Bemerkung«, wies Kühlborn Blum zurecht. Kühlborn, der selbst die dümmsten Sprüche riss, ließ es sich nicht nehmen, andere zusammenzustauchen. Blum grinste hilflos in die Runde, senkte den Blick und fing an, verlegen auf seinem Schreibblock herumzukritzeln.
»Die Studentin wurde damals zuletzt gesehen, als sie um kurz nach neunzehn Uhr die Butjadinger Straße, Höhe Roter Sand, entlangging. Sie war bei einer Freundin gewesen und wollte zur Bushaltestelle am Reedeich, um von dort mit dem 63er in die Neustadt zu fahren, wo sie in einer Wohngemeinschaft mit einer anderen Studentin lebte.« Todt nahm einen Schluck Kaffee aus seinem Becher, registrierte, dass seine Kollegen aus dem Fenster starrten, ungeniert in der Nase popelten oder, wie Blum, ihre Schreibblöcke verschönerten. »Über die Todesursache kann der Gerichtsmediziner nichts sagen. Der Schädel ist intakt, weist keine Schuss- oder Schlagverletzungen auf«, fuhr Todt fort. »Nach dem Selbstmord von Professor Katzenstein in der Nacht zum 2. Januar waren wir wie elektrisiert. Sein Name steht nämlich in den Akten der Vermisstensache Wollenbeck.«
Eugen Müller, der aus dem Fenster gestarrt hatte, wandte Todt interessiert den Kopf zu. Felix Götze, ein Oberkommissar, der lange bei der Sitte gearbeitet hatte, zog seinen Finger aus der Nase. »Vor ihrem Verschwinden hatte Nicole Wollenbeck regelmäßig die Vorlesungen von Professor Katzenstein besucht. Nach ihrem Verschwinden haben die Kollegen damals natürlich auch mit dem Mathematiker gesprochen. Obwohl er damals ein paar Hundert Studenten zu betreuen hatte, konnte er sich gut an Nicole Wollenbeck erinnern. Sie sei außergewöhnlich begabt gewesen, hatte der Professor zu Protokoll gegeben. Katzenstein war beim Internationalen Mathematikerkongress in Kyoto, als Nicole Wollenbeck verschwand. Er hatte also ein Alibi.«
»Ist das Alibi denn wirklich wasserdicht?«, hakte Heiner Blum nach. Offenbar wollte er seinen Fauxpas von vorhin wettmachen.
»Hundertprozentig«, antwortete Todt. »Der Professor, das ergibt sich aus alten Akten, war damals sehr betroffen vom Verschwinden seiner Studentin. Er zeigte großes Verständnis für die Ermittlungen, legte freiwillig seine Flugtickets vor und konnte belegen, dass er in Kyoto Vorträge gehalten hatte. Davon abgesehen: Als Katzenstein Selbstmord beging, lag der Schädel in der Gerichtsmedizin, um die Identität zu klären. Es wusste also noch niemand, dass es der Schädel von Nicole Wollenbeck war.«
Blum schüttelte nachdenklich den Kopf. »Sorry, Stefan, dass ich noch mal nachfrage«, begann er. »Aber das ist doch ein irrer Zufall: Der Schädel der Studentin wird gefunden. Am Tag darauf bringt sich ihr Professor um. Und da soll es keinen Zusammenhang geben? Mir fällt es schwer, das zu glauben. Was ist, wenn Katzenstein kein Alleintäter war? Wenn er, sagen wir, einen Komplizen hatte, der die Studentin entführt hat, während er sich in Japan aufhielt. Der Professor kehrt aus Kyoto zurück und bringt Nicole Wollenbeck, die bis dahin
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