Tod eines Mathematikers
keine Kinder, aber seit Jahren einen festen Freund. Sie kam aus Hastedt.
Die vierte Frau war die neunzehnjährige Julia Marx, die noch bei ihren Eltern in Sebaldsbrück wohnte. Sie verschwand im Jahr 2000, und zwar – wie die erste Vermisste, Claudia Tiefenbach – am 4. Mai. Julia wurde zuletzt auf der Stromer Landstraße an der Ochtum gesehen, wo sie mit ihrem Fahrrad unterwegs gewesen war. Danach verliert sich ihre Spur.
Und die fünfte Bremerin, die wir vermissen, heißt Bianka Specht, damals zweiunddreißig Jahre alt. Sie war Verkäuferin, wohnte in Osterholz und verschwand am 4. April 2005, und zwar ganz in der Nähe der Stromer Straße, wo Julia Marx zuletzt gesehen worden war, nämlich auf der Niedervielander Straße, einem abgelegenen Stichweg im Bremer Westen. Auch sie war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen.«
Todt hielt einen Moment inne, nahm einen weiteren Schluck aus seinem Becher. Der Kaffee war inzwischen fast kalt und schmeckte bitter. Aber seine Kehle musste dringend befeuchtet werden, bevor er weitersprechen konnte. »So, und nun eine Rechenaufgabe, die auch du, lieber Heiner, bewältigen könntest: Wir schreiben das Jahr 2010. Die Frauen sind im Abstand von fünf Jahren verschwunden. 1985, 1990, 1995, 2000 und 2005. Immer im ersten Halbjahr des Jahres, im April, Mai oder Juni. Wir wissen zwar nicht, ob die Frauen Opfer ein und desselben Serienmörders geworden sind oder ob da ein Original und eine Kopie ihr Unwesen treiben. Aber wenn die Serie fortgesetzt wird, verschwindet im ersten Halbjahr dieses Jahres die nächste Frau.«
Kühlborn blies den Rauch durch die Nase. Blum starrte auf seinen Block.
»Die letzten beiden Taten weisen ein paar auffällige Parallelen auf. Beide Frauen waren in einem einsamen Bremer Randgebiet mit dem Fahrrad unterwegs. Ihre Fahrräder sind nie irgendwo aufgetaucht. Deshalb glauben wir, dass Julia Marks und Bianka Specht ein und demselben Täter zum Opfer gefallen sind. Die ersten drei Frauen sind mitten in der Stadt verschwunden, der Täter ist ein großes Risiko eingegangen. Die beiden anderen Frauen waren dagegen in einsamen Gegenden unterwegs. Wir haben es also entweder mit zwei Tätern zu tun. Oder aber wir haben einen Täter, der nach den ersten drei Taten weniger risikofreudig war. Wir wissen es schlicht nicht.«
Kühlborn blickte gelangweilt aus dem Fenster. Die Fälle der vermissten Frauen kannte er natürlich. Einige Zeugen hatte er damals sogar selbst vernommen. Aber er wusste auch, dass man sich in Bremen nicht nur Freunde machte, wenn man Altfälle löste. Meistens kamen mit der Lösung jede Menge Ermittlungsfehler ans Tageslicht. Wie im Fall Cordula Krüger, die Ende der Siebzigerjahre vergewaltigt und erwürgt worden war. Für den Mord wurden zwei Brüder verurteilt, die ihre Unschuld beteuerten und später, wegen diverser Verfahrensfehler, wieder freikamen. Der Generalstaatsanwalt höchstpersönlich wurde all die Jahre nicht müde, in Zeitungsinterviews zu betonen, dass damals »schon die Richtigen auf der Anklagebank gesessen« hätten. Die Männer, zwei Handwerker, fassten nie wieder Fuß. Der eine beging Selbstmord, der andere soff sich zu Tode. Als ein junger, engagierter Staatsanwalt sich des Falles noch einmal annahm und den wirklichen Mörder mithilfe neuer DNA-Technik schließlich überführte, wurde er nicht etwa befördert, sondern zum Dank aus der Behörde gemobbt. Denn er hatte ganz nebenbei einen Justizskandal aufgeklärt. Als der wahre Mörder, der inzwischen das Rentenalter erreicht hatte, vor Gericht gestellt wurde, saß neben ihm auch die Bremer Justiz auf der Anklagebank und war bis auf die Knochen blamiert.
»Kannten die verschwundenen Frauen einander eigentlich?«, wollte Blum wissen.
»Nein«, antwortete Todt, »die Frauen kannten sich – nach allem, was wir wissen – nicht. Sie hatten nicht einen gemeinsamen Bekannten, keine gemeinsamen Hobbys. Die ermittelnden Kollegen konnten nicht den Hauch eines Berührungspunktes feststellen. Die Damen wohnten nicht mal im selben Stadtteil. Auch vom Alter her liegen sie weit auseinander. Die Jüngste war neunzehn Jahre alt, die Älteste siebenunddreißig. Als einzige Gemeinsamkeit kann man aufführen, dass sie Bremerinnen waren. Gegen die Version von einem Serientäter spricht, dass die Frauen von Typ her völlig verschieden waren.«
Todt klappte den rosafarbenen Aktendeckel auf und holte die Fotos hervor. Er hielt das Bild von Nicole Wollenbeck in die Höhe. Kühlborn pfiff
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