Tod eines Mathematikers
alles. Stand Nicole vielleicht gar nicht auf Männer? Oder war sie vielleicht streng religiös?
Exfreund tippte Harry ins Suchfeld ein. Spurenakte Wollenbeck_Nicole_Band2 spuckte der Rechner aus. Harry klickte den Ordner an, gab abermals Exfreund ins Suchfeld ein. Keine zwei Sekunden später las er die Aussage von Bernward Bollwahn auf dem Bildschirm. Er hatte, wie Nicole, Mathematik auf Lehramt an der Universität Bremen studiert, allerdings war er schon ein paar Semester weiter. Nur drei Monate waren die beiden ein Paar gewesen. Ein halbes Jahr vor ihrem Verschwinden hatte Nicole sich von ihm getrennt.
Die Verletzung über die Trennung sprach aus jeder Zeile seiner Aussage. Ich bin fest davon überzeugt, dass Nicole mich verlassen hat, weil sie was mit Katzenstein hatte. Und der war eifersüchtig auf mich, hat mich deshalb durch jede mündliche Prüfung rasseln lassen.
Prof. Katzenstein? Harry stutzte. Den Namen hatte er doch schon mal gehört. Katzenstein, Katzenstein – war das nicht dieser Chemiker, nein, Mathematiker, der Anfang des Jahres Selbstmord begangen hatte? Über den Flurfunk war die Geschichte zu ihm durchgedrungen, aber Harry hatte sich nicht weiter dafür interessiert. Sollte ja ab und zu vorkommen, dass Wissenschaftler durchdrehten, hatte er nur gedacht. Nicole war also Katzensteins Studentin gewesen. Jetzt wird’s richtig spannend, dachte Harry, stand auf und holte sich noch ein weiteres Beck’s aus dem Kühlschrank, bevor er weiterlas.
Katzensteins Aussage war länger als die von Bollwahn. Der Professor lobte seine Studentin über den grünen Klee, ein sexuelles Verhältnis bestritt er energisch: Ich bin glücklich verheiratet, was glauben Sie von mir? Als Lehrkraft muss man sich zurückhalten können. Tatsächlich hatte er für den Zeitpunkt von Nicoles Verschwinden ein Alibi. In der Akte befand sich ein abgescannter Zeitungsartikel. Deutsche Spitzenmathematiker in Kyoto las Harry. Das Foto zu dem Artikel, das sehr unscharf war, zeigte einen dunkelhaarigen Mann vor einem Mikrofon.
Der Zeitungsausschnitt stammte vom 6. April 1990, einem Freitag. Zwei Tage nachdem Nicole Wollenbeck verschwunden war. Prof. Dr. Albert Katzenstein hielt in Kyoto einen Vortrag, stand unter dem Bild. Die Kollegen hatten damals nachgerechnet. Der Zeitunterschied zwischen Deutschland und Japan betrug sieben Stunden. Als Nicole am Abend des 4. April gegen neunzehn Uhr verschwand, war es in Kyoto zwei Uhr morgens gewesen. Sie hatten die Flugpläne gecheckt und mit dem weiteren Verlauf der Veranstaltung abgeglichen. Katzenstein hatte noch zwei Vorträge gehalten. Es wäre unmöglich für ihn gewesen, zwischendurch schnell mal nach Deutschland zu fliegen, um seine Studentin zu entführen. Sein Alibi war wasserdicht.
Trotzdem merkwürdig, dass sich Katzenstein ausgerechnet einen Tag, nachdem er Nicoles Schädel am Weserstrand freigepisst hatte, das Leben genommen hatte. Andererseits hatte der Professor von dem Fund gar nichts wissen können, dafür hatte Kühlborns Geheimhaltetaktik gesorgt. Harry blätterte weiter in der Handakte. Tochter v. Prof. K. Schmiererin beim Weltblatt entzifferte Harry mit einiger Mühe Kühlborns Schrift. Schmiererin beim Weltblatt? Harry kam nicht gleich drauf, was Kühlborns Notiz zu bedeuten hatte. Ach ja, fiel ihm plötzlich ein. Katzensteins Tochter Alexandra arbeitete als Journalistin beim Weserblick und war dort vor allem für Polizei- und Justizthemen zuständig. In der Stadt und auch in Kollegenkreisen war sie ziemlich bekannt, aber Harry war ihr noch nie persönlich begegnet. Schmiererin beim Weltblatt, dachte Harry, ich möchte nicht wissen, als was sie dich insgeheim nennt. Wahrscheinlich: Fettsack bei den Mord-Bullen oder so.
Auch Martina Lemke, die Freundin, die mit Nicole zusammen in einer WG gelebt hatte, wusste nichts von einem Verhältnis zwischen Katzenstein und Nicole. Nicole wollte sich auf ihr Studium konzentrieren, nicht auf ihren Professor. Wenn die beiden was miteinander gehabt hätten, hätte Nicole mir das erzählt, las Harry. Allmählich wurde er müde, es war schon vier Uhr morgens. Harry trank sein Bier in einem Zug aus. Seine Suche glich einem Stochern im Nebel.
Irgendwas hatten die Kollegen damals übersehen. Nur was?
*
Mackenroth kam wie immer als Erster auf den Punkt: »Eines muss man dem ollen Professor ja lassen: Er hat unsere Branche mächtig in Aufruhr versetzt.«
»Jawoll, das hat er, der liebe Herr Prof. Katzenpisse«,
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