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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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zu reden. Wir haben ja beide unsere Liebsten verloren.«
    Liebsten – das Wort versetzte mir einen Stich. Willich, ganz Kavalier der alten Schule, half mir aus meinem Daunenmantel und hängte ihn neben sein braun gemustertes Tweed-Sakko an die Garderobe, ein altmodisches Monstrum aus den Siebzigern. Weiß gelackte Streben, deren Design an einen Lattenzaun erinnerte, dazu ein rot glänzender Unterschrank.
    Dann führte er mich ins Wohnzimmer. Die Willichs hatten ihre Einrichtung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Ende der Siebzigerjahre komplett bei Neckermann geordert. Die giftgrüne Eckcouch aus samtigem Velours, den verchromten Glastisch, die Schrankwand, braun, mit weißen Hängeschränken. Begehrte Objekte für Retrofans.
    »Nehmen Sie doch Platz, Alexandra. Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie beim Vornamen nenne? Aber Ihr Vater hat immer so viel von Ihnen erzählt, dass ich das Gefühl habe, Sie zu kennen.«
    Seine Worte durchzuckten mich. »Mein Vater hat mit Ihnen über mich gesprochen?« Ich ließ mich in einen der Sessel fallen.
    »Möchten Sie etwas trinken, Alexandra, ein Glas Rotwein vielleicht?«, fragte Willich und drückte sich um eine Antwort.
    »Danke, gerne. Aber ich vertrage nur trockenen Rotwein, wegen meiner Migräne.«
    Willich nickte. »Da habe ich einen hervorragenden Tropfen für Sie im Keller.«
    »Dann gern.« Willich verschwand. Ich sah mich um. In den Regalen der Schrankwand thronten Pokale. Zehn, fünfzehn, vielleicht sogar noch mehr. Einer kitschiger als der andere, bauchige Riesentassen, alle auf Hochglanz poliert, Schachfiguren, Springer und Könige auf Marmorblöcken, Medaillen in Glas gefasst. Auf dem Tisch lag ein Schachbrett; die Figuren, sie waren aus Speckstein und glänzten matt, waren nicht über die Eröffnung hinausgekommen. Offenbar hatte ich Willich bei einer Partie gestört. Der alte Mann spielte gegen sich selbst und die Einsamkeit.
    Willich kam zurück, stellte die entkorkte Flasche auf den Glastisch. Er hatte sich umgezogen, trug jetzt einen schwarzen Rollkragenpullover, der ihm ausgezeichnet stand, und eine schwarze Jeans. Für sein Alter, Willich mochte Ende sechzig sein, hatte er sich gut gehalten. Er war schlank, trieb wahrscheinlich regelmäßig Sport. Sein weißes Haar, das ungewöhnlich voll war für einen Mann seines Alters, trug er zurückgekämmt. Die schwarze, viereckige Brille verlieh seinem Gesicht einen markanten Zug. Als junger Mann musste Willich ziemlich gut ausgesehen haben.
    »Tja, wir sind wohl so was wie Schicksalsgenossen.« Willich nahm zwei Korkuntersetzer, stellte die Gläser darauf und schenkte ein. Ohne probiert zu haben, wusste ich, dass der Wein mir nicht schmecken würde, weil sein Rot zu durchsichtig war.
    »Es tut mir so leid, dass ich nicht zur Beerdigung Ihrer Frau kommen konnte«, entschuldigte ich mich noch einmal. »Aber ich war so durch den Wind. Und wenn ich ehrlich bin: zwei Beerdigungen binnen einer Woche … Ich gehe ja beruflich dauernd auf Beerdigungen, aber es ist doch was anderes, wenn man privat betroffen ist.«
    Willich nickte verständnisvoll. »Sie müssen sich nicht entschuldigen, Alexandra. Ich verstehe gut, dass Ihnen die Kraft fehlte. Es ist ja auch …« Seine Stimme brach. Wortlos stellte er das Glas vor mich hin und nahm Platz.
    »Es ist sicher sehr schwer für Sie«, sagte ich aus Verlegenheit und hätte mir sofort auf die Zunge beißen können. Klar, war es schwer. Was denn sonst?
    »Ich kämpfe jeden Tag. Aber meine Tochter ist mir eine große Stütze. Ich bin viel bei ihr, lenke mich ab, indem ich mich um meine drei Enkel kümmere. Und ich spiele Schach.« Willich schluckte, nahm seine Brille ab, zog ein zerknülltes Taschentuch aus dem Ärmel seines Pullovers. Obwohl ich schon unzähligen Leuten gegenübergesessen hatte, die ihre Angehörigen verloren hatten, konnte ich das Leid dieses alten Mannes kaum ertragen und wäre am liebsten auf der Stelle geflohen. »Wenn ich irgendwas für Sie tun kann …«, versuchte ich hilflos, »… bitte zögern Sie nicht, mich anzurufen. Tag und Nacht. In der Redaktion. Zu Hause. Ich hatte Ihrer Frau ja alle meine Nummern gegeben, auch die Handynummer.«
    »Das ist lieb von Ihnen, Alexandra«, antwortete Willich mit belegter Stimme und setzte seine Brille wieder auf.
    »Sie meinten vorhin, mein Vater hätte über mich gesprochen?« Ich gierte regelrecht danach zu erfahren, was er gesagt hatte.
    Willich nickte. »Dass Sie den Dickkopf Ihrer Mutter geerbt

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