Tod eines Mathematikers
Nach so vielen Jahren konnte ich meine Tochter beerdigen. In aller Ruhe, im engsten Familienkreis. Nun habe ich einen Ort, an dem ich trauern kann.«
Harry räusperte sich verlegen. »Frau Wollenbeck, wenn es Ihnen zu viel wird …«
»Nein, nein, Herr Tenge, es geht schon. Ganz im Gegenteil, es tut mir gut, über Nicole zu reden. Wissen Sie, das ist fast so, als ob sie noch ein bisschen da wäre, unsere Nicole.«
»Ich wollte einfach wissen, was für ein Mensch Nicole war. Deshalb habe ich Sie angerufen.«
Margarete Wollenbeck nickte.
»Sagen Sie, Frau Wollenbeck, äh, lebt eigentlich, äh, Ihr Mann noch?«
Margarete Wollenbeck senkte den Blick, Tränen traten in ihre Augen. »Er ist vor zwölf Jahren gestorben. Über den Verlust unserer Tochter ist er nie hinweggekommen. Dass sie einfach nicht mehr da war, so plötzlich …« Frau Wollenbeck schwieg einen Moment lang.
»Wissen Sie, Herr Tenge, wir waren so stolz auf unser Mädchen. Sie war eine gute Tochter. Hat uns nie Kummer bereitet. Sie war die Erste in unserer Familie, die Abitur gemacht und studiert hat.« Margarete Wollenbeck nahm ihre randlose Brille ab, drückte sich ein Taschentuch auf die Augen.
Harry konzentrierte sich hilflos auf das Blumenmuster der Tapete, hörte die Stimme von Margarete Wollenbeck wie aus weiter Ferne.
»Schon als Zehnjährige wusste sie, dass sie einmal Lehrerin werden wollte. Wir haben das zunächst nicht ernst genommen. Wissen Sie, mein Mann war Maschinenschlosser bei Daimler. Und ich habe als Verkäuferin beim Bäcker gearbeitet …« Margarete Wollenbeck stockte wieder.
Harry schämte sich, dass er alte Wunden aufriss. Was war nur in ihn gefahren, dass er sich einbildete, er könne diesen alten Fall lösen?
»Wie gesagt, so ganz ernst genommen haben wir ihren Berufswunsch nicht. Wir hätten es lieber gesehen, wenn sie eine Lehre gemacht hätte. Irgendwas Solides, Bodenständiges. Was Kaufmännisches vielleicht. Oder wenn sie in die Verwaltung gegangen wäre. Doch dann, eines Tages …« Ein Lächeln huschte über das Gesicht der verwaisten Mutter. Gleichzeitig füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. »Eines Tages, sie war in der vierten Klasse, kam ihr Lehrer zu uns nach Hause. Und erklärte uns, Nicole sollte unbedingt auf das Gymnasium gehen. Unsere Nicole. Unser einziges Kind. Aufs Gymnasium. Sie wäre so begabt. So wissbegierig. Alles andere würde sie unterfordern. Wir waren vollkommen überrascht, mein Mann und ich. Gute Noten hatte unsere Nicole ja immer gehabt. Aber Gymnasium? Womöglich sogar ein Studium? Daran hatten wir nie gedacht. Und wir waren im ersten Moment auch ein wenig überfordert. Aber Lehrer Kömpel redete uns gut zu. Er machte uns Mut. Schließlich überließen wir Nicole die Entscheidung. Und die wollte unbedingt. Sie war gar nicht zu bremsen und überglücklich, als es klappte.«
»Und auf dem Gymnasium …«
»Hatte sie nie Probleme. Ein Lehrer sagte einmal zu uns, Nicole könnte jeden Beruf erlernen. Sie müsse sich bloß entscheiden. Aber sie wollte nur eines: Lehrerin werden. Und dann war sie auch noch so gut in Mathematik … Und das als Mädchen … Unser Stolz kannte keine Grenzen.«
Harry hatte sein zweites Stück Marmorkuchen verdrückt und den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse getrunken.
»Entschuldigen Sie, Herr Tenge, möchten Sie noch?«
»Nein, nein, danke, Frau Wollenbeck. Aber es schmeckt ausgezeichnet.« Frau Wollenbeck hatte weder Kuchen noch Kaffee angerührt.
»Mich wundert, dass die Presse gar keinen Wind bekommen hat – weder vom Fund noch von der Beerdigung«, wurde Harry die Frage los, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte.
»Das kann ich Ihnen erklären«, antwortete Margarete Wollenbeck. »Die Beamten sagten mir, sie wollten den Fund nicht an die große Glocke hängen. Aus taktischen Gründen. Sie würden jetzt erst mal in aller Ruhe ermitteln. Mir kam das sehr gelegen. Ich wollte keinen Rummel, sondern mein Kind allein beerdigen. Außerdem hat unsere Familie zur Presse sowieso gute Drähte. Simon Schröder, der Lokalchef vom Weserblick , ist mein Neffe, also Nicoles Cousin. Die beiden haben sich sehr gut verstanden. Simon hat damals nichts unversucht gelassen, um Nicoles Verschwinden aufzuklären. Natürlich habe ich ihn sofort angerufen, als der Schädel gefunden worden war. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Wissen Sie, Simon wollte nie wahrhaben, dass Nicole tot war. Er glaubte bis zum Schluss, sie habe sich nur ins Ausland
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