Tod eines Mathematikers
hätten. Dass Sie mit achtzehn von zu Hause abgehauen wären und sich allein durchgeschlagen hätten. Ohne je einen Cent von ihm zu verlangen.«
»Und das war alles?« Es gelang mir nicht, die Enttäuschung in meiner Stimme zu unterdrücken. Willich nickte wieder. »Aber die Art, wie er es gesagt hat, verriet Anerkennung. Er konnte eben nur nicht aus seiner Haut heraus. Liebe zu zeigen, war nicht seine Stärke.«
»Mein Vater hat mich enterbt«, platzte ich heraus. »Er hat sein gesamtes Vermögen einer Hamburger Stiftung vermacht. Nicht, dass ich scharf wäre auf sein Geld. Aber mir ist, als …« Weiter kam ich nicht. Die Tränen schnürten mir den Hals zu. Ich kramte ein Tempo aus meiner Tasche.
»Alexandra«, sagte Willich sanft, »machen Sie Ihren Frieden mit Ihrem Vater, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Ihr Vater hat wahrscheinlich am meisten unter sich selbst gelitten. Er konnte Ihnen kein Vater sein, weil er selbst keinen gehabt hatte. Ihr Großvater arbeitete von früh bis spät. Wenn seine Kinder aufstanden, war er schon in der Fabrik. Und er kehrte erst zurück, wenn sie schliefen. ›Ich habe meinen Vater nur flüchtig kennengelernt‹, hat Ihr Vater mal zu mir gesagt. Ihr Großvater hielt sich mehr in der Fabrik auf als zu Hause.«
»Und mein Vater beschäftigte sich lieber mit Zahlen als mit Frau und Tochter«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. »Ich dachte …«, schniefte ich, »… Sie hätten eine irre Wut auf meinen Vater«.
Willich blickte mich an. Er hatte blaue Augen, die wirkten, als hätten sie schon viel gesehen. »Wut würde mir nicht weiterhelfen. Ich bin unendlich traurig. Aber Ihr Vater hat das, was passiert ist, nicht gewollt. Natürlich ist der Verlust unvorstellbar schmerz…« Willich neigte den Kopf, sodass ich seine Tränen nicht sehen konnte. Er gehörte noch zu der Generation, der eingebläut worden war, dass Männer nicht weinten. Mehr aus Verlegenheit trank ich einen Schluck Wein; er war so sauer, dass ich mich beherrschen musste, nicht das Gesicht zu verziehen. Billiger Fusel vom Discounter. »Herr Willich«, sagte ich, »ich kann einfach nicht glauben, dass mein Vater Selbstmord begangen hat. Er muss gewusst haben, wie gefährlich Kohlenmonoxid ist. Es gab schon Selbstmörder, die Warnschilder aufgehängt haben. Das hätte mein Vater auch gemacht. Niemals hätte er Ihre Frau …«
Ich stockte, überlegte, ob ich es wirklich sagen sollte, aber es musste raus. »Ich glaube nicht an Selbstmord oder einen Unfall. Mein Vater wurde ermordet.« Der letzte Satz hing schwer zwischen uns im Raum.
Willich sog die Luft scharf ein. »Alexandra«, flüsterte er und schüttelte den Kopf. »Ihrem Vater ging es zum Schluss nicht gut. Er hatte Depressionen, sah keinen Sinn mehr im Leben. Ich wollte Ihnen das eigentlich gar nicht erzählen, aber vielleicht sollten Sie es wissen. Er litt darunter, dass er irgendeinen Preis nicht bekommen hatte, die Kolmogorow-Medaille, wenn ich mich recht entsinne. Und mit diesen Stiftungsleuten in Hamburg hatte er sich auch irgendwie in die Haare gekriegt.«
»Er hatte Streit mit den Stiftungsleuten?«
Willich nickte. »Aber fragen Sie mich nicht, worum es ging. Das war mir zu hoch. Ich meine, er wollte sich sogar aus der Stiftung zurückziehen.«
Also doch, schoss es mir durch den Kopf.
»Es ist schon komisch, dass er ausgerechnet die Stiftung als Alleinerbin eingesetzt hat, das muss ich zugeben. Aber verrennen Sie sich da nicht, Alexandra. Ich glaube eher, dass Ihr Vater Selbstmord begangen hat. Wahrscheinlich hat er nur nicht mehr daran gedacht, sein Testament zu ändern, weil ihm alles egal war. Und deshalb ist ihm auch das mit dem Kohlenmonoxid passiert.«
»Aber warum hat er sich Silvester dann noch in die Klinik einliefern lassen, wenn er doch sterben wollte?«
»Tja«, meinte Willich achselzuckend, »ich glaube, Ihr Vater war jemand, der das Heft des Handelns gern selbst in die Hand nahm. Davon abgesehen, ist es ja auch viel angenehmer, langsam wegzudämmern.«
Ich schüttelte den Kopf. »Lieber Herr Willich …«
»Ernst, Alexandra, wenn es Ihnen nichts ausmacht, nennen Sie mich ruhig Ernst.« Willich hob sein Glas.
Ich prostete ihm zu und rang mir ein Lächeln ab. »Ernst«, sagte ich. »Den Mathematikern stand das Wasser bis zum Hals. Das Erbe kommt denen wie gerufen. Es rettet sie vor dem Ruin. Man muss sich doch nur fragen, wer am meisten vom Tod meines Vaters profitiert.«
Willich sah mich nicht an, nahm
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