Tod im Dom
vielleicht schon im Bahnhof schnappen! Ich mußte mich nur unauffällig im Hintergrund halten, während Anja das Schließfach leerte. Sobald Mr. Häßlich aufkreuzte und mit einem Messer auf sie losging, brauchte ich ihn nur noch zu überwältigen, der Polizei zu übergeben und amtlich meine Unschuld feststellen zu lassen, und dann konnte ich mit einer dicken Belobigung vom Polizeipräsidenten persönlich in meine Wohnung am Volksgarten zurückkehren. Das würde mir auch das Risiko einer Nacht mit Anja auf dieser gefährlich schmalen Schlafcouch ersparen, von allem anderen ganz zu schweigen.
Natürlich bedeutete dies, daß Anja ihr Leben riskierte.
Konnte ich das von ihr verlangen?
Und was war, wenn der Plan schiefging? Wenn Mr. Häßlich sie massakrierte und sich mit dem Inhalt des Schließfachs davonmachte? Aber warum sollte er so verrückt sein und jemand mitten im Hauptbahnhof umbringen, vor allen Leuten?
Ich goß mir einen neuen Ossi-Weinbrand ein und wartete auf Anja. Eine halbe Stunde später kam sie zurück – mit dem Haarfärbemittel, einem Blindenstock, einer Brille mit nachtschwarzen Gläsern, die so monströs und häßlich war wie ihre eigene, und einer gelben Blindenarmbinde.
Ein Wunder, daß sie nicht auch noch einen Blindenhund mitgebracht hatte, aber das war wohl in der kurzen Zeit selbst für sie nicht zu schaffen gewesen.
»Den Blinden sparen wir uns für später auf«, sagte ich. »Heute abend muß ich dich im Auge behalten.«
Anja lächelte erfreut. »Das klingt gut. Ich könnte dir einiges zeigen, was besonders sehenswert ist.«
»Nur keine falschen Hoffnungen«, wiegelte ich ab und erzählte ihr von meinem Plan. »Nun, was hältst du davon? Es ist riskant, aber…«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, unterbrach sie und zauberte aus ihrer Einkaufstüte ein schätzungsweise fünfzig Zentimeter langes Schlachtermesser hervor, mit dem sie auf gefährliche Weise vor meinem Gesicht herumfuchtelte.
»Ich war bei den Jungen Pionieren. Da haben wir gelernt, wie man sich gegen die Imperialisten verteidigt.«
»Das beruhigt mich kolossal«, sagte ich, ohne das blitzende Messer aus den Augen zu lassen. »Was für ein Glück, daß ich nie Imperialist gewesen bin.«
Sie legte das Schlachtermesser zur Seite und griff nach der Schere, um mir die Haare zu schneiden. Es dauerte nicht lange; sie hatte fast so geschickte Finger wie ich. Anschließend trug ich mir das Haarfärbemittel auf, legte mich auf die Couch und ließ es bei einem Gläschen Goldkrone einwirken. Anja duschte derweil. Ich hörte sie irgend etwas singen, vielleicht die Internationale oder was die messerschwingenden Jungen Pioniere bei ihrem Kampf gegen die Imperialisten sonst zu singen pflegten.
Als sie aus der Dusche kam, trug sie einen langen weißen Bademantel, unter dem bei jedem Schritt ihre vollen Oberschenkel aufblitzten. Da sie die Brille abgelegt hatte und weniger als eine Blindschleiche sah, stieß sie sich das Knie an der Tischkante, sank mit einem Schmerzensschrei auf die Couch und begrub mich unter sich.
Ich verschüttete fast meinen Weinbrand.
»Wir hatten doch eine Abmachung getroffen«, sagte ich nervös. »Warum immer gleich Liebe machen? Warum können wir nicht einfach Freunde sein?«
Ihr Gesicht war mir ganz nah, ihre Lippen waren feucht und halb geöffnet. Ihre rosa Zungenspitze züngelte hervor, tippte gegen meine Nasenspitze und verschwand wieder. Ich weiß nicht, woran es lag – an der Tatsache, daß sie diese monströse Hornbrille abgesetzt hatte, oder an der Wirkung dieses VEB-Weinbrands – aber sie sah völlig verändert aus. Noch immer unschuldig und rein, aber irgendwie bedrohlich weiblich. Selbst der eulenhafte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden. Dafür funkelte in ihnen etwas, das ich spontan für Raffinesse hielt.
Ihr Körper war warm und dampfend feucht von der heißen Dusche. Und sie roch erschreckend gut.
»Mein Knie tut weh«, sagte Anja, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Du mußt irgend etwas dagegen tun. Wenn ich den Lockvogel für deinen Mörder spielen soll, muß ich fit sein. Humpelnd nütze ich dir gar nichts.«
Ich bemühte mich weiter, flach zu atmen und den betörenden Duft ihrer Haut zu ignorieren. Und den Druck ihrer schweren Brüste. Und die sachten, rollenden Bewegungen ihrer Hüften.
»Wenn du eine Salbe gegen Prellungen hast, reibe ich dir das Knie ein«, schlug ich vor. »Dafür müßtest du natürlich aufstehen.«
Sie verengte die Augen und verstärkte ihre
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