Tod im Dom
und einem BMW, gab es eine schmale Lücke, in die der Trabbi problemlos hineinpaßte.
Der Motor erstarb, und in der plötzlichen Stille klang das Prasseln der Regentropfen laut und aufdringlich wie Fäuste, die gegen eine Tür hämmerten.
Wir sahen uns an.
»Fertig?« sagte ich. »Bist du bereit? Ich meine, ist mit dir alles klar? Bist du sicher, daß du es wirklich tun willst?«
»Nervös?« fragte Anja. »Natürlich will ich es wirklich tun! Ich bin für alles gerüstet.«
Sie angelte ihre Pink-Panther- Handtasche vom Rücksitz, die genauso täuschend unschuldig aussah wie sie selbst, öffnete kurz den Reißverschluß und zeigte mir ihr anti-imperialistisches Schlachtermesser.
»Du hättest auch ein Messer mitnehmen sollen«, sagte sie. »So ein Messer beruhigt die Nerven.«
»Mein Bedarf an Messern ist für die nächsten Jahre gedeckt. Du solltest dieses Mordwerkzeug lieber im Auto lassen. Gegen einen kräftigen Mann hast du keine Chance – ob nun mit oder ohne Messer.« Ich runzelte die Stirn. »Mit Messer sogar noch weniger.«
»Wir Jungen Pioniere fürchten keinen Feind«, sagte Anja dramatisch und stieg aus.
Seufzend folgte ich ihr hinaus in den strömenden Regen. Der Geruch nach Frost hing in der Luft; vielleicht würde es bald schneien. Ich sah zu dem lichtergeschmückten Weihnachtsbaum auf dem Bahnhofsvorplatz hinüber und seufzte erneut. So, wie die Dinge lagen, konnte ich meinen Traum vom Weihnachtsfest auf Ibiza vergessen. Ich konnte schon froh sein, wenn ich das Weihnachtsfest überhaupt erlebte.
»Okay«, sagte ich heiser. »Du gehst vor, öffnest das Schließfach, räumst es aus und kehrst sofort zum Wagen zurück. Kümmere dich nicht um mich. Ich folge dir unauffällig, und wenn jemand zudringlich wird, greife ich ein. Und das Messer wird nur im äußersten Notfall eingesetzt, verstanden?«
»Wie du meinst, Harry.«
Anja schlug die Kapuze ihrer Öljacke hoch, warf sich die Pink-Panther- Tasche über die Schulter, zwinkerte mir zu und verschwand im Bahnhof. Sie schien nicht die geringste Angst zu haben. Phänomenal. Aber vielleicht war sie auch nur naiv. Ich wartete noch ein paar Sekunden, zog mir den Schirm der Baseballmütze tief ins Gesicht und ging ihr nach.
Es war nicht schwer, Anja im Auge zu behalten. Dank der späten Stunde hielt sich die Zahl der Reisenden in Grenzen, aber ich hätte sie auch im dicksten Gewühl nicht verloren – in ihrer gelben Öljacke sah sie wie eine wandelnde Leuchtreklame aus. Die Schließfächer mit den 1000er-Nummern lagen nicht weit vom Eingang entfernt, hinter dem Pornokino und der Gepäckausgabe.
Ich blieb an der Bahnhofspost stehen und bedauerte, nie mit dem Rauchen angefangen zu haben. Nervös wie ich war, verlangten meine Finger dringend nach einer Beschäftigung, doch ich wollte unsere Operation nicht durch einen unbedachten Griff in fremde Taschen gefährden.
Ich gab mich also unauffällig und musterte die Leute, die wie ich im Bahnhof herumlungerten. Häßlich waren sie alle, aber bis auf zwei ergraute Schnapsnasen, die sich am Briefkasten gegenüber die Zeit mit einer Flasche Korn vertrieben, nicht häßlich genug, um der Mörder zu sein, und die Schnapsnasen kümmerten sich nur um den Korn, nicht um die Schließfächer.
Anja hatte die Schließfächer inzwischen erreicht und dank ihrer teleskopstarken Brillengläser das Fach 1007 auf Anhieb gefunden. Sie verhielt sich wie ein Profi, als würde sie jeden Tag das Fach eines Killers leerräumen, zögerte nicht, steckte den Schlüssel ins Schloß, öffnete die Tür, holte eine braune Reisetasche heraus, drehte sich um und steuerte den Ausgang an.
Aus der Tür des nahen Pornokinos trat ein untersetzter, stämmiger Mann in einer gefütterten Lederjacke und ging Anja hinterher. Er wurde schneller. Ich setzte mich sofort in Bewegung, doch da war er auch schon an ihr vorbei, ohne ihr oder der Reisetasche etwas angetan zu haben, und ein paar Sekunden später war er in der Durchfahrt für die Postautos verschwunden.
Ich blieb wieder stehen.
Fehlanzeige.
Ich hatte ihn ohnehin nicht für den Mörder gehalten. Der Mann, der mich im Dom angerempelt hatte, war ungefähr so groß gewesen wie ich; der Stämmige hatte mir nicht einmal bis zu den Schultern gereicht. Außerdem war sein Gesicht viel zu glatt, zu nichtssagend, nicht hübsch, aber auch nicht häßlich.
Anja verriet mit keinem Blick und keiner Geste, daß sie mich kannte und wir zusammengehörten oder daß sie Angst davor hatte, daß Mr.
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