Tod im Dünengras
früh zur Schule aufbrechen. Felixâ Unterricht
begann zwar erst zur zweiten Stunde, aber ihren Enkelsohn hätte Carlotta schon
auf dem Stuhl festbinden müssen, damit er sich anhörte, wie wohl sie sich als
Teil des Inselchors gefühlt hatte. Auch Erik war zurzeit nicht als geduldiger
Zuhörer einzuplanen, er war in Gedanken stets bei dem Fall Jesse.
Da sich bei den Kemmertönsâ noch immer nichts regte, musste sie wohl
nach einer anderen Gelegenheit suchen, ihr übervolles Herz auszuschütten. Die
Kassiererinnen bei Feinkost Meyer hatten leider zu wenig Zeit für ausführliche
Plaudereien, und ein Besuch auf dem Friedhof und der Blick auf Lucias Grabstein
war einfach nicht dasselbe wie der Blick in das Gesicht eines Menschen, dessen
Augen interessiert auf sie gerichtet waren.
Zu Hause in Umbrien hätte sie nur ein paar Schritte durch ihre Gasse
machen müssen, bis sie auf die Nonna einer anderen Familie gestoÃen wäre, die
sich hocherfreut alles angehört und kommentiert hätte, was Carlotta Capella auf
der Seele lag. Aber da die Sylter nicht einmal bei schönstem Sonnenschein vor
ihren Häusern saÃen, blieben nur Tove Griess, der Wirt, vor dem Erik sie immer
wieder warnte, und Fietje Tiensch, dessen Leben so leer war, dass er es mit den
Erlebnissen anderer Menschen füllen musste.
Also brachte Carlotta die Notenblätter ins Haus, die zu kostbar
waren, um in Käptens Kajüte getragen zu werden, und machte sich auf den Weg.
Doch leider wartete eine weitere Enttäuschung auf sie. Vor Toves Theke
herrschte der Ausnahmezustand. In die Imbiss-Stube war ein männlicher Kegelclub
aus dem Ruhrgebiet eingefallen, den man kurz vorher aus einem Bistro geworfen
hatte, weil man das Grölen und die üblen Witze leid gewesen war. So musste Tove
sich nun etwas über arrogante Sylter Gastwirte anhören, die vom derben Frohsinn
einfacher, aber herzlicher Männer nichts verstanden. Daher hatte er am Zapfhahn
alle Hände voll zu tun und natürlich keine Zeit, sich mit Carlottas Erlebnissen
aus dem Inselchor zu beschäftigen.
Also setzte sie ihren Weg zum Strand fort. So hatte es sicherlich
auch Fietje gemacht, als er, wie jeden Tag, bei Tove sein erstes Jever trinken
wollte. Doch das Strandwärterhäuschen am Ende der SeestraÃe war leer. Entweder
hatte Fietje keinen Dienst, oder er sah am Wenningstedter Strand nach dem
Rechten, oder aber er nahm es mit seinen Pflichten mal wieder nicht so genau
und trieb sich irgendwo herum, wo ihm fremde Menschen das Leben zeigten, an dem
er selbst nicht mehr teilhatte.
Missmutig stieg Mamma Carlotta die Treppe zum Strand hinab und
wanderte zur Wasserkante. Zugegeben, der Blick aufs Meer entschädigte für den
Mangel an Kommunikation, aber er machte ihr gleichzeitig das Herz schwer. Hätte
sie Erik doch nie von der Mafia reden hören! Wie sollte man unter diesen
Umständen den wunderschönen Anblick genieÃen?
Verspielt war das Meer heute. Nur weit drauÃen gab es die hohen,
gleichmäÃigen Wellen. Sobald sie sich dem Strand näherten, kräuselten sie sich,
kamen wie eine ausgelassene Horde daher, winkten mit ihren Gischtkrönchen und
warfen sich dann übermütig auf den Sand. Beinahe kam es Mamma Carlotta so vor,
als kicherten sie.
Beim Anblick der verspielten Wellen musste sie an Willem Jäger
denken, den sie am Abend zuvor zum ersten Mal getroffen hatte. Einen solchen
Mann hatte sie noch nie kennengelernt. Als sie die Tanzschule betraten, kam er
mit kleinen Schritten auf sie zugelaufen und rief: »Da seid ihr ja, ihr SüÃen!«
Er begrüÃte jede von ihnen mit Bussi-Bussi, behauptete, es sei total
süÃ, dass nun eine Italienerin den Chor bereichere, und die italienische
Lebensart sei ja sowieso das SüÃeste, was es gäbe ⦠dann lief er voraus,
um zu kontrollieren, ob der Toilettenraum für seine SüÃen in einwandfreiem
Zustand war. »Meine kleinen Ballettratten nehmen das nicht immer so genau!«
Mamma Carlotta starrte ihm nach. Sie war sicher, nie zuvor einen
schöneren Mann gesehen zu haben. Willem Jäger war von kleiner, zarter Statur.
Seine schmalen Hüften steckten in einer hautengen schwarzen Lederhose, darüber
bauschte sich ein weiÃes Hemd. Dunkle Augen hatte er und schwarzes Haar, das
sich zu seinem gröÃten Bedauern über der Stirn bereits lichtete. Das tat aber
seiner Attraktivität keinen Abbruch,
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