Tod im Dünengras
gepflasterte Kurpromenade hinter sich hatte, atmete er auf. Alles konnte
er nun abschütteln, was Sylt gefährlich werden konnte. Alles! Er konnte froh
sein, und eigentlich ⦠eigentlich war er es auch.
Das Gespräch der Staatsanwältin mit Adriano Girotti hatte lange
gedauert. Länger als sein eigenes Telefonat mit Mamma Carlotta. Sie war sehr
aufgeregt gewesen, kein Wunder. Adriano Girotti hatte bei ihr angerufen und
sie, die er für die Dolmetscherin der Sylter Kriminalpolizei hielt, über das
Ergebnis seiner Untersuchungen unterrichtet. Ganz still hatte Erik dagesessen,
als er das Ergebnis von Girottis Untersuchungen kannte. Mamma Carlotta hatte
ausdrücklich versichert, ihm das Gespräch Wort für Wort ins Deutsche übersetzt
zu haben. Wirklich Wort für Wort? Aber es war auch nicht wichtig, ob sie übertrieben
oder sich wirklich bemüht hatte, alle Einzelheiten so genau wie möglich
wiederzugeben. Er würde ja alles noch einmal von der Staatsanwältin erzählt
bekommen. Von nebenan konnte er ihre Stimme hören, ohne zu verstehen, was sie
sagte.
Als die Staatsanwältin in sein Zimmer zurückkehrte, hatte sie
ausgesehen, als hätte sie einen persönlichen Sieg errungen. »Habe ichâs nicht
von Anfang an gesagt?«
Adriano Girotti hatte schnell herausgefunden, dass der auffällige
Ring einem Mafia-Boss gehört hatte: Antonio Capra! Mamma Carlotta hatte diesen
Namen ins Telefon gejubelt. »Nun weià ich es wieder! So hieà der Kerl, der
Maria ein Kind gemacht und sie dann sitzen gelassen hat!«Dass Antonio Capra ein
Mitglied der Mafia gewesen war, hatte in Mamma Carlottas Familie niemand
gewusst. Genauso wenig, auf welche Weise es Francesco geglückt war, seinen
Vater zu finden. Anscheinend aber war es ihm gelungen. Nachdem er mit dem
Ersparten seiner GroÃeltern durchgebrannt war, hatte er sich eine Weile
herumgetrieben und sich mit Diebstählen über Wasser gehalten, dann hatte er
sich irgendwann erwischen lassen und war im Gefängnis gelandet. Nach seiner
Entlassung hatte er sich zu seinem Vater durchgeschlagen, war von ihm
aufgenommen und in die Mafia-Familie Capra eingeführt worden.
»Capra wollte seinen einzigen Sohn zu seinem Nachfolger machen«,
hatte die Staatsanwältin erzählt, »denn er war schwer krank und wusste, dass er
nicht mehr lange zu leben hatte.«
Aber Francesco erfüllte seine Erwartungen nicht. Er erwies sich als
feige, hinterhältig, hatte keine Führungsqualitäten, wurde von den anderen
Mitgliedern der Capra-Familie abgelehnt. Antonio musste bald klar geworden
sein, dass von seinem Sohn nichts zu erwarten war, trotzdem hatte er den Plan,
mit Francesco zusammen die deutschen Touristikzentren zu erobern.
Doch bevor es so weit war, wurde die komplette Capra-Familie
zerschlagen, sämtliche Mitglieder festgenommen, sie alle wurden zu hohen
Haftstrafen verurteilt und saÃen nun allesamt in kalabrischen Gefängnissen. Nur
Antonio Capra und sein Sohn waren davongekommen. Der Alte, weil er, als seine
Familie verhaftet wurde, im Krankenhaus lag, der Junior, weil ihm nichts
vorzuwerfen und schon gar nichts nachzuweisen war. Natürlich war er von seinem
Vater in sämtliche Machenschaften eingewiesen worden, wusste von den
Schutzgelderpressungen, von Korruption, Geldwäsche und den Morden, die begangen
worden waren, um den rabiaten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Aber
Francesco war selbst nicht daran beteiligt gewesen. Also durfte er unbehelligt
am Bett seines Vaters sitzen bleiben, der am Tag nach der groÃen
Verhaftungswelle starb und sich damit einem langen Gefängnisaufenthalt entzog.
Da sein Vater ihm den Ring mit den drei Doppelkrei-sen auf dem
Sterbebett geschenkt hatte, fühlte Francesco sich wie sein Nachfolger, obwohl
das Lebenswerk seines Vaters nicht mehr existierte. Anscheinend hatte er die
Idee, nun ganz allein in die Tat umzusetzen, was seinem Vater nicht mehr
gelungen war: deutsche Touristikzentren zu vereinnahmen. Er nahm den Kontakt zu
zwei Mithäftlingen auf, die er im Gefängnis kennengelernt hatte, und bildete
sich ein, mit ihnen zusammen eine Mafia-Familie gegründet zu haben. Tatsächlich
schien er sogar Erfolg damit zu haben. Eine Reihe von Sylter Gastwirten hatten
beim Wort Mafia anscheinend Angst bekommen und Schutzgeld gezahlt.
Offenbar war Henner Jesse der Erste gewesen, der sich gewehrt hatte,
und war deshalb mundtot gemacht worden.
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