Tod im Dünengras
für sie ausgeräumt. Ob dieser Platz
ausreichte? Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Giovanna sich in dieser
Hinsicht deutlich von allen anderen Frauen der Verwandtschaft unterschieden,
die mit Wasser und Seife, einem Kamm und ein paar Haarnadeln auskamen. Aber
Giovanna war schlieÃlich einmal mit einem Schlagersänger zusammengewesen, mit
einem Star. Als seine Backgroundsängerin war sie Teil dieser anderen Welt
gewesen, die in Umbrien niemand kannte, und das hatte natürlich Spuren
hinterlassen. Mamma Carlotta war Giovanna zwar lange nicht begegnet, aber sie
war sicher, dass jemand am Süder Wung auftauchen würde, der in den Schickimickibars
von Sylt nicht weiter auffallen würde.
Sie freute sich auf Giovanna. Schon vor ihrem Erscheinen hatte sie
für positive Veränderungen gesorgt, das rechnete Carlotta ihr bereits jetzt
hoch an. Felix hatte zwar die Augen verdreht, als er hörte, dass Giovanna mal
was mit einem »Schlagerfuzzi« gehabt hatte, aber er konnte dennoch nicht
verhehlen, dass eine solche Tante interessanter war als eine der vielen anderen
des Capella-Clans, die sich mit Häkelarbeiten, Gottesdienstbesuchen und den
Angelegenheiten anderer Leute beschäftigten, die sie nichts angingen.
Auch Carolin schien durch Giovannas Besuch wieder zu ihrer Familie
zurückzufinden, aus der sie sich in den letzten Tagen auf so besorgniserregende
Weise entfernt hatte. Sie erhoffte sich Ratschläge für ihre Gesangskarriere und
hatte beim Frühstück davon geredet, dass Giovanna sie womöglich mit wichtigen
Leuten aus der Musikbranche bekannt machen könne. Carlotta fürchtete sogar,
dass Carolin bereits von einem Plattenvertrag träumte. Diese Tatsache bedrückte
sie. Was sie aber glücklich machte, war Carolins Reaktion, als sie vom Tod des
entfernten Verwandten erfahren hatte. Sie hatte ihre Nonna tröstend umarmt und
ihr zugesichert, in den nächsten Tagen öfter zu Hause zu sein, um ihr
beizustehen. »Natürlich nur, soweit die Chorproben es erlauben.«
Dass Mamma Carlotta für diese Einschränkung Verständnis hatte, lag
auf der Hand. SchlieÃlich war ihr selbst der Chorwettbewerb sehr wichtig, und
auch Giovanna würde groÃen Wert auf eine intensive Vorbereitung legen. Vorausgesetzt,
sie hatte überhaupt Lust, den Inselchor zu unterstützen. Carlotta seufzte. Sie
würde einiges mit Giovanna zu bereden haben. Hoffentlich war sie noch immer so
loyal und verschwiegen, wie sie sie in Erinnerung hatte. Wenn nicht, würde
Carlotta in Schwierigkeiten kommen. Ihr Plan sah vor, dass Giovanna erfuhr, was
in der letzten Nacht geschehen war â¦
Die Angst hatte sie gelähmt, als sie begriff, dass sie
hinter Käptens Kajüte nicht allein war. War ihr jemand gefolgt, der sie
bedrohen wollte? Oder würde gleich eine Stimme nach der Polizei rufen? Würde
jemand sie packen, der sie für eine Diebin hielt, und erst loslassen, wenn
Eriks Kollegen mit Handschellen erschienen waren? Eine Erklärung, die
einerseits glaubhaft war und andererseits die Ordnungshüter davon überzeugte,
dass sie nichts Böses im Schilde führte, würde schwer zu finden sein. Und die
Chance, dass Erik nichts davon erfuhr, war gleich null. Was also sollte sie
tun?
Vorsichtig lieà sie sich vom Fenstersims gleiten, bis sie die
Getränkekiste unter den FüÃen spürte. Am liebsten wäre sie Hals über Kopf
geflüchtet, aber die Angst hielt sie zurück. Vielleicht war das Geräusch, das
sie aufgeschreckt hatte, von einem Tier verursacht worden? Womöglich von einem
scharfen Hund! Dann war überstürzte Flucht genau das Falsche. Ihr Instinkt
sagte ihr jedoch, dass kein Tier sie belauerte, sondern ein Mensch. Mamma
Carlotta starrte in die Ecke des Grundstücks, wo das Geräusch entstanden war.
Vollkommene Finsternis herrschte dort, das Mondlicht erreichte diesen Teil des
Grundstücks nicht. Alte Fässer standen am Zaun, das wusste sie, und allerlei
Gerümpel lag daneben. Es war leicht, sich dort zu verbergen. Ob es Tove selbst
war? Hatte er bemerkt, dass jemand in seine Küche eingedrungen war, und wollte
den Einbrecher nun stellen? Aber nein, Tove hätte sich längst bemerkbar
gemacht. Er musste Mamma Carlotta in dem Quadrat des weiÃen Fensterrahmens doch
erkennen! Und überhaupt â warum sollte Tove nach Mitternacht in seine
Imbiss-Stube kommen?
Mamma Carlotta stieg von der Kiste auf die
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