Tod im Moseltal
Marie: »Hast du Lust, dich mal zu setzen?«
Christian Buhle schaute sie an, als ob er erst einmal einordnen müsse, wo er sich befand. Dann zuckte er kurz mit den Schultern. »Ja, klar, wenn dir das nicht zu kalt ist?«
Der norddeutsche Herbsttag schien der Bank, auf die sie sich setzten, vor ihnen bereits einige andere Gäste beschert zu haben. Zuletzt schienen sich drei beturnschuhte Jugendliche, auf der Rückenlehne sitzend, für die Dauer eines Hamburgers dem Wasser zugewandt zu haben. Das deutete Marie jedenfalls aus den Schuhabdrücken auf der Sitzfläche der Bank sowie den drei darunter verstreuten, irgendwann ökologisch abbaubaren Imbissverpackungen. Sie verzog den Mund und schaute mit einem Seufzer auf ihre helle Jeans. Auf der Nachbarbank saß ein alter Mann, der Christian Buhle und sie beobachtete.
»Tjo, min Deern, so machen das die jungen Leute nu mal. Du kannst dich aber auch zu mir setzen. Jens Hansen tut dir schon nichts.«
Marie betrachtete den Mann kurz: Unter einem olivgrünen Cordhut quollen ungeordnet graue Haare bis zu seinen ausgeprägten Koteletten hervor. Sein beige-braun meliertes Jackett spannte sich etwas über der dunkelgrünen Strickjacke, deren Reißverschluss bis oben geschlossen war. Beide Kleidungsstücke hatten etwas mit der ausgeprägten Bügelfalte der weiten Stoffhose gemeinsam: Sie waren offenbar über Jahrzehnte hinweg treue Begleiter des alten Mannes gewesen. Das alles bemerkte Marie, doch das interessierte sie nicht. Denn sie blickte in ein stoppelbärtiges, wettergegerbtes Gesicht, das eine willkommenheißende Güte und Freundlichkeit ausstrahlte, die sie nur zu dankbar annahm.
»Na, das wird ja nu mal ein guter Tag werden, wenn sich gleich am Morgen ein so hübsches Mädchen neben einen setzen mag.« Der Alte sah Marie aus Augen an, die vor Leben und Spitzbübischkeit fast überzuquellen schienen. Als Christian Buhle unschlüssig stehen blieb, sagte der Mann leise lachend: »Das war doch nur Spaß. Nu setzt euch mal beide hierhin. Wo kommt ihr denn her?«
Der ausgeprägt norddeutsche Dialekt, mit dem er sprach, machte ihn für Marie gleich noch liebenswürdiger. »Wir kommen aus Trier.«
»So, aus Trier, das liegt doch an der Mosel, nicht wahr?« Marie nickte freundlich. »Tjo, das ist ja nu mal weit weg von hier. Für mich ist das ja schon eine richtige Reise, wenn ich mal nach Hamburg komme, nicht wahr.«
»Wo kommen Sie her?«
»Ich komm von einer Hallig. Weißt du, was das ist, eine Hallig?« Marie schüttelte den Kopf. »Nu, das ist eine Insel, die bei Sturmflut beinah ganz unter Wasser steht. Da kucken dann nur noch die Häuser raus, weißt du?«
Jetzt schaltete sich auch Christian Buhle in das Gespräch ein und sagte erklärend zu Marie: »Die Häuser sind auf Erdhügel gebaut, die so hoch sind, dass das Hochwasser sie nicht erreicht.«
»Genau so ist das. Das sind die Warften. Mensch, dein Mann hat ja richtig Ahnung. Da hast du ja einen ganz Klugen abgekriegt, min Deern.« Alle drei mussten lachen.
»Wie kommen Sie hier nach Hamburg? Besuchen Sie hier jemanden?«, fragte Marie.
»Nee, du, ich hab hier niemanden. Wir sind mit dem Pastor hier, weißt du. Der macht einmal im Jahr eine Fahrt, und da bin ich diesmal mal wieder mit. Die andern wollten sich aber noch was ankucken gehen, da habe ich aber keinen Spaß mit. Da sitze ich lieber hier ein bisschen und schaue mir die Leute in der großen Stadt an. Das ist ja auch schön, nich?« Er zwinkerte Marie zu. »So, wie spät haben wir es denn?« Er schaute auf eine einfache Digitaluhr, die gar nicht zu ihm zu passen schien, aber dennoch genau das tat. »Oh, so spät schon. Nu, da muss ich euch wohl jetzt mal verlassen. Versprecht mir aber, dass ihr gleich nich wieder so böse dreinschaut wie vorhin. Denkt daran, dass der größte Kummer irgendwann wieder ganz klein wird, wenn ihr das Gute in den Menschen nicht vergesst. Denn man tschüs, ihr beiden.«
Er stand auf und reichte zuerst Marie und dann Buhle seine kräftige rechte Hand. Die Pranke des alten Halligers war ledrig, rau und warm. Marie fühlte, wie sich lebenslange harte Arbeit um ihre Finger und Handflächen legte. Sie verabschiedeten sich mit einem Lächeln und blickten ihm noch lange nach, wie er langsam und sicher den Uferweg entlangschritt.
Nach einer Weile, als Jens Hansen schon nicht mehr in Sichtweite war und eine Amsel mindestens einen Quadratmeter von buntem Laub umsortiert hatte, war es Marie, die das Gespräch wieder begann. »Ich
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