Tod im Moseltal
Marie. »Ich hatte die ersten acht Wochen Lehrgang zum Rettungssanitäter gemacht und brannte richtig auf mein Praktikum in der Rettungswache. Die ersten Tage waren ein ruhiger Einstieg für mich. Wir waren pro Schicht sechs Leute. Ein Notarzt vom nahe gelegenen Krankenhaus auf Bereitschaft, zwei Rettungsassistenten und drei Zivis. Ich bin hier und da mal mitgefahren, meistens bei Krankentransporten, aber es war nichts Aufregendes. Dann kam der 20. Februar, der Tag vor meinem neunzehnten Geburtstag. Es war ein kalter, tückischer Tag. Schon in den Frühnachrichten hatten sie vor überfrierender Nässe gewarnt.«
Wieder schien es Marie, als ob er neue Kraft zum Weiterreden sammeln musste.
»Zunächst war es ruhiger, als wir in der Rettungswache dachten. Gegen halb neun kamen dann plötzlich drei Notrufe in kurzer Folge. Der Erste war ein schwerer Unfall auf dem Kölner Ring. Es war von mehreren Schwerstverletzten die Rede. Der Notarzt und einer der Rettungsassistenten machten sich sofort auf den Weg.
Wenige Minuten später wurde der zweite Rettungswagen geordert. Ein Pkw war ins Schleudern gekommen und hatte sich bei Junkersdorf um einen Baum gewickelt. Jetzt waren nur noch Paul und ich als Zivildienstleistende in der Zentrale. Wir scherzten, dass wir beim nächsten Fall die Einzigen sein würden, die zu Helden werden könnten. Doch während wir noch lachten, kam tatsächlich der Notruf. Auf der B 265, kaum anderthalb Kilometer von meinem Zuhause entfernt, hatte sich ein schwerer Frontalzusammenstoß ereignet. Wir meldeten, dass momentan weder ein Notarzt noch ein Rettungsassistent in der Zentrale seien. Aber nach einer halben Minute kam der Ruf noch mal. Alle anderen Wagen seien auch im Einsatz, und wir seien die nächsten. Es gebe mehrere Schwerverletzte.«
Christian Buhles Gesichtsausdruck hatte sich mit jedem Wort weiter verdunkelt. Marie spürte eine erdrückende Beklemmung in sich aufsteigen.
»Paul war damals schon zweiundzwanzig und hatte bereits eine Ausbildung als Krankenpfleger. Er war als Erster im Wagen, doch da ich den Weg besser kannte, schubste ich ihn vom Fahrersitz. Es dauerte nur vier Minuten, bis wir am Unfallort ankamen. Es waren insgesamt vier Autos. Zwei waren ineinander verkeilt, einer stand auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, und ein Wagen war in den Graben gerutscht.«
Obwohl sein Blick weiter auf Marie gerichtet war, merkte sie, dass er sie nicht mehr sah. Er wandte sich ab und blickte wieder in Richtung Alster. Es dauerte einige Minuten, bis er mit weit entfernter Stimme weitersprach.
»Zuerst sah ich das blutüberströmte Gesicht von Moni, der Verlobten von Gerd. Sie hatte weit aufgerissene Augen und einen schiefen, offenen Mund. Ihr Oberkörper hing im Sicherheitsgurt fest, aber er war schon ohne Leben. Das entgegenkommende Auto hatte den kleinen Fiesta mit so einer Wucht erwischt, dass sich auf der Beifahrerseite der Motorblock fast auf Sitzhöhe befand.
Gerd war von einem der nachkommenden Fahrer schon aus dem Wrack herausgezerrt worden. Als ich zu ihm kam, öffnete er die Augen. Er schaute mich an, und ich sah eine Erleichterung in seinem Blick, als ob er mit meinem Angesicht an Rettung glaube. Die gab es aber nicht mehr. Ein herausstehendes Blechteil hatte ihm die linke Seite aufgerissen. Er hatte schon bei unserer Ankunft zu viel Blut verloren. Ich versuchte, die riesige Wunde zu verbinden, den Blutverlust zu stoppen, und kam erst wieder zu mir, als ein Polizist mich wegzog und sagte, dass es keinen Sinn mehr hätte, der Mann sei längst tot. Ich konnte es nicht glauben. Paul erzählte mir später, ich hätte immer wieder geschrien: ›Mein Bruder lebt noch. Er sieht mich doch noch an‹ und hätte weiter versucht, die Wunden mit Kompressen zuzudrücken, bis ich dann irgendwann zusammengebrochen bin. Aber davon weiß ich nichts mehr.«
Christian Buhle hielt wieder inne. Er war äußerlich immer noch ganz ruhig, auch seine Stimme war erstaunlich fest. Doch sein stumpfer Blick war durch und durch Schmerz und Trauer. Marie war wie erstarrt. Sie hatte mit etwas Schlimmem gerechnet, mit einer Tragödie von solcher Tragweite aber nicht.
Von ferne hörte sie, wie Christian Buhle weitersprach. Seine Stimme war jetzt leise; leise und bitter. »In dem Auto im Graben lag eine Schülerin, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Ein Glassplitter hatte ihre Halsschlagader verletzt. Aber sie hätte eine reelle Chance gehabt, wenn ich mich um sie gekümmert hätte anstatt um meinen toten
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