Tod im Moseltal
Lust an den Quälereien nach dieser Szene verloren. Tom hat bald danach auch aufgehört. Zuerst hatte ich gedacht, es lag nur daran, dass er es allein nicht auf die Reihe bekommen hatte. Aber dann hatte ich doch den Eindruck, es hat auch bei ihm klick gemacht.«
Marion hatte bei der Schilderung zunehmend von ihrer Leichtigkeit verloren. Auch Marie aß langsamer und weniger genussvoll. Buhle hatte sich in Tomatensoße eingelegte dicke Bohnen auf den Teller gelegt, sie aber dann nicht mehr angerührt.
»Tut mir leid«, Marion schaute entschuldigend zu Marie, dann auch zu Buhle, »ich kann euch leider keine leichte Kost aus Toms Jugend liefern.« Sie nahm ihr Glas, hielt es den anderen beiden hin und sagte: »Deshalb kriegt ihr jetzt keine weiteren Beispiele mehr von mir, sondern wir trinken von diesem herrlichen Landwein und essen uns satt.«
Zögerlich nahmen auch Marie und Buhle ihre Gläser und stießen mit Marion an. Buhle nippte nur kurz an dem samtig weichen, in Barrique-Fässern gereiften Wein, dann fragte er:
»Haben die Lehrer denn gar nichts gemerkt?«
»Teilweise schon. Aber die Lehrerschaft bestand auch nicht nur aus Engeln. Tom hatte ein gutes Gespür dafür. Er hatte einzelne Lehrer wohl so beunruhigt, dass sie es nicht riskierten, sich mit uns anzulegen. Im Gegenteil, sie schützten uns sogar vor anderen Lehrern. Wir hatten also leichtes Spiel.«
»Und die Mitschüler?«
»Ich würde sagen: Angst. Einmal wollte uns eine Gruppe älterer Schüler stellen. Sie waren entschlossen, uns tierisch zu verprügeln. Aber Tom wusste ein paar Details von ihnen, die er an entsprechende Stellen weiterzugeben drohte. Er meinte, dass sie uns entweder gehen lassen oder ihn totprügeln müssten. Daraufhin rührte uns keiner an. Eine andere kleine Gruppe wollte uns etwas anhängen, damit wir von den Lehrern Ärger bekamen. Die waren schneller von der Schule weg, als sie denken konnten: Diebstahl von Schuleigentum. Gegen Tom und mich hatte keiner eine Chance.«
Marion zuckte wie als Bitte um Entschuldigung mit den Schultern. »Nach einiger Zeit war jeder nur froh, wenn er nicht zu den Opfern gehörte. Bald traute sich keiner mehr an uns heran. Und da alle schwiegen, auch die Opfer, schöpfte keiner von den Erwachsenen Verdacht.«
»Wie lange ging das?«
»Bis zu Beginn der Oberstufe etwa. Wie schon gesagt, ich hatte nach der Sache mit Klaus-Hermann gemerkt, dass unsere Schweinereien alles andere als toll waren, zumal keiner mehr etwas davon mitbekam außer unseren Opfern selbst.«
»Hattest du auch mehr als diese … kann man sagen: freundschaftliche Beziehung zu Thomas Steyn?«
Marion lachte kurz und bitter auf. »Nein, wir waren keine richtigen Freunde. Wir waren eine Zweckgemeinschaft, vielleicht ein Bund Gleichgesinnter, aber keine Freunde. Tom sah das allerdings, glaube ich, anders. Er hatte mich zu einem gemeinsamen Urlaub überredet und wollte mit mir eine Liebesbeziehung anfangen. Ich hab mich sogar darauf eingelassen, weil ich Lust auf Sex hatte. Aber das klappte gar nicht. Es war dann auch so etwas wie der Schlusspunkt zwischen uns. Ich hab mich außerhalb der Schule orientiert, fing an, mich für ältere Jungs zu interessieren. Tom begann dafür, geradezu zwanghaft zu büffeln. Wahrscheinlich hat er sich damals bereit für den Kampf gegen seinen Vater gemacht.«
Der Portier begrüßte sie auffallend freundlich und warf Buhle einen verschwörerischen Blick zu. In ihrer Suite ging Marie schnurstracks ins Bad. Buhle stand ein paar Augenblicke unschlüssig im Wohnraum und ging dann vorsichtig ins Schlafzimmer, nahm sich die weniger zerwühlte Bettdecke und ein Kopfkissen und ging zurück zum größeren der beiden Sofas. Als er fertig war und sich wieder umdrehte, stand Marie in der Tür. Sie war wie vorhin nur mit ihrer Bluse bekleidet. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen, dann kam sie zu ihm, reichte ihm die rechte Hand, die er zögerlich drückte, und sagte: »Danke.«
Es war ihre erste körperliche Berührung.
18
Hamburg; Mittwoch, 10. November
Buhle wachte um kurz nach sechs Uhr auf. Er zog sich an und fertigte ein Gedächtnisprotokoll der Aussage von Marion Reens an. Um halb neun hörte er endlich Bewegung im Schlafzimmer. Nach einer ausgiebigen Dusche, die auch er nötig gehabt hätte, hörte er kurzes Geraschel im Nachbarzimmer, dann öffnete sich die Tür. Diesmal trat Marie vollständig angezogen in den Wohnraum. Ihre schwarzen Locken waren noch wilder als sonst; ihr Gesicht wirkte
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