Tod im Moseltal
letzte Unternehmung in Trier zurechtgelegt, solange die Ritzen der Jalousien etwas Helligkeit ins Haus ließen. Das Areal hatte er schon vorher erkundet. Die sieben jeweils zweigeschossigen Häuser, die aussahen, als seien sie nach den Maurerarbeiten vergessen worden, befanden sich in einem nur gut einhundert auf zweihundert Meter großen Areal. Das Oval war von einer Ringstraße umgeben und durch weitere Betonwege in Längs- und Querrichtung geteilt. Er hatte sich das im Zentrum gegenüber einem kleinen Reihenhaus stehende Haus als späteres Basislager ausgesucht. Von dort hatte er den besten Überblick über die Wege und freie Sicht zu den meisten der anderen Häuser.
Zufrieden saß er in seinem Versteck. Das leer stehende Wohnhaus lag für ihn ideal in geringer Entfernung zum ehemaligen Militärgelände ein wenig abseits der Pellinger. Dort aß er etwas, kontrollierte seine Ausrüstung, las einige unklare Funktionen in der Gebrauchsanweisung eines Nachtsichtgerätes nach, das er sich kurz vorher noch in einem Elektromarkt gekauft hatte, und legte sich noch einmal für einige Stunden auf sein Nachtlager.
Kurz nach Mitternacht brach er auf. Der Weg durch die regnerische Nacht zu seinem auserkorenen Basislager war ungemütlich, dafür aber auch unproblematisch. Ohne Zweifel am Gelingen seines Vorhabens bezog er in der Baracke Position. Natürlich hatte er sich überlegt, was passieren würde, wenn das Schwein nicht oder mit einem Sondereinsatzkommando der Polizei kommen würde. Aber er hatte beide Varianten verworfen. Er wusste, das Schwein würde in seiner Arroganz die Sache selbst erledigen wollen. Er wusste es ganz sicher.
Es waren dennoch lange fünf Stunden gewesen. Fünf Stunden, in denen er in seinem Schlafsack an einer der Fensteröffnungen im Obergeschoss der Baracke gesessen und beobachtet hatte: wie der Regen einsetzte und wieder aufhörte, wie Kaninchen über die durch Grasfugen gegliederten Betonwege liefen und wieder in den Krautsäumen entlang der Gehölze verschwanden. Fünf Stunden, in denen er es als unglaublich entspannend empfand, einfach nur zu warten, ohne sich mit irgendeinem anderen Gedanken belasten zu müssen. Fünf Stunden, in denen er ganz in sich ruhte, nur auf eine einzige Sache fokussiert. Nach diesen fünf Stunden war es so weit: Er sah ihn durch den Regenvorhang kommen.
*
Der Regen war in den letzten Minuten stärker geworden. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos spiegelten sich für Sekundenbruchteile hundertfach in den Tropfen auf ihrer Windschutzscheibe, bis sie vom Scheibenwischer unerbittlich zur Seite geschoben wurden. Sie stellte das Scheibenwischerintervall höher.
Der Weiler Avelsbach lag tief geduckt unter dem fortwährenden Novemberregen, als Marie das Auto an den Häusern vorbeisteuerte. Sie liebte diese düsteren Stimmungen hier oben auf der Hochfläche. Doch in dieser ausklingenden Nacht erschien es ihr eher wie die atmosphärische Untermalung des Dramas, das sich gerade in ihrer Familie abspielte und unaufhaltsam einem tragischen Ende zusteuerte. Trotz aller zwiespältigen Gefühle der letzten zwei Wochen: Marie hatte Angst um ihren Mann.
Sie war noch nicht aus dem Auto gestiegen, als von innen bereits die Haustür geöffnet wurde und Christian Buhle sie hineinwinkte. Als sie im Haus war, sah er ihr kurz und sichtlich besorgt in die Augen, begann dann aber ohne Umschweife: »Komm nach oben. Ich zeige dir den Brief, den dein Mann für dich hinterlassen hat. Ist dir schon etwas eingefallen?«
Marie schüttelte den Kopf und folgte wie vor zweieinhalb Wochen dem Kommissar in ihrem eigenen Haus. War sie damals noch empört gewesen über diese Situation, so war es für sie nun so selbstverständlich, dass sie keinen Gedanken daran verschwendete. Vielmehr verstärkte sich die Beklemmung bei dem Gedanken, dass Thomas ihr einen Brief hinterlassen hatte. War es ein Abschiedsbrief?
Sie las sich den Brief zweimal durch, um ihn begreifen zu können. Sie merkte nicht, wie die Polizisten um sie herum langsam ungeduldig wurden.
Schließlich fragte Gerhardts vorsichtig: »Frau Steyn, können Sie mit dem Satz etwas anfangen? Wissen Sie, was er mit der letzten Niederlage meint?«
Marie sah weiterhin auf den Bildschirm. Es fiel ihr schwer, ihre Gefühle einzuordnen. Es waren zu viele Widersprüche, zu viel Durcheinander. Doch dann eröffnete sich ihr plötzlich wie selbstverständlich der Weg. Als ob alles Chaos rechts und links beiseitegeschoben würde, lag klar vor
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