Tod im Moseltal
stehen hatte.
Er war an der Hintertür der Scheune zum Garten angelangt. Traditionell waren solche Türen in Avelsbach nie abgeschlossen worden. Umso überraschter war er, als er die Klinke ohne Erfolg drückte. Er schloss kurz die Augen. Damit hatte er nicht gerechnet. Mit klammen Händen griff er in seine Jackentasche und holte den Schlüsselbund heraus, den er am Vorabend in der Diele vom Schlüsselbrett seines Jugendfreundes hatte mitgehen lassen. Es waren nur vier Schlüssel dran. Schon der erste öffnete das Türschloss.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, leuchtete er mit seinem Smartphone durch die Werkstatt. Da es kein Fenster zur Straße gab, schien es ihm ungefährlicher, als sich im Stockdunklen den Weg durch Werkzeugkisten, Motorteile, Rahmen oder Schutzbleche zu bahnen. Die seitliche Tür zum Wohngebäude war geschlossen, trotzdem wagte er es nicht, Licht zu machen, weil er Ritzen in den alten Holztoren vermutete.
Er prüfte die Uhrzeit. Nur noch circa zehn Minuten hatte er Zeit. Er hatte für den Weg hierher länger gebraucht, als er vermutet hatte. Zum Glück hatte Stefan Thieles wie früher einen Teil seiner Motorradbekleidung an einer provisorischen Garderobe an der Seitenwand aufgehängt. Thomas nahm eine Regenkombi vom Haken und zog sie an. Er sprach einen inneren Dank aus, als ihm auch noch die Motorradstiefel einigermaßen passten, obwohl Stefan fast zehn Zentimeter größer war als er.
Er sah sich um. Die Scheune hatte noch die alten, drei Meter hohen Rundbogentore mit der darin integrierten einfachen Tür. Genau davor stand Stefans aktuelles Motorrad.
Thomas steckte den ebenfalls am gestohlenen Bund hängenden Motorradschlüssel in das Zündschloss und stellte zufrieden fest, dass die Maschine betriebsbereit war. Mit einigem Respekt setzte er sich auf die Honda. Er schätzte ihren Motor auf mindestens tausend Kubik Hubraum und fragte sich, wie schnell er damit wohl fahren konnte. Doch sofort verwarf er den Gedanken wieder. Er war viel zu sehr aus der Übung und konnte froh sein, wenn er mit diesem Geschoss bei dem Wetter sein Ziel unbeschadet erreichte.
Wieder schaute er nach der Uhrzeit. Es war an der Zeit. Er atmete noch einmal tief durch, schaltete das Licht ein, setzte einen der Helme auf, die in einem Regal aufgereiht waren, und zog sich als Letztes die Handschuhe über. Er suchte den Schlüssel, der zur Eingangstür passte, schloss auf und stieß die Holztür weit ins Freie. Nur zwanzig Meter weiter konnte er das Polizeiauto sehen. Diesmal schien der Polizist in Zivil zu schlafen. Als sein uniformierter Kollege die Bewegung hinter sich wahrnahm, rempelte er ihn an, und der Zivile schreckte hoch. Thomas schaute hinauf zu seinem Haus. Im selben Augenblick ging dort das Licht in einem zur Baltzstraße ausgerichteten Fenster an. Sofort waren die beiden Polizisten abgelenkt.
Thomas war zufrieden. Zeitschaltuhren ließen sich digital auf die Minute genau einstellen. Er schob das Motorrad hinaus, machte das Licht im Schuppen aus und schloss die Tür hinter sich ab. Dann rollte er, wie er es häufiger bei Stefan Thieles beobachtet hatte, im Leerlauf und ohne gestarteten Motor ein Stück die Baltzstraße hinunter. Im Vorüberfahren sah er aus den Augenwinkeln, wie das Licht in seinem Haus wieder erlosch. Erst nach den letzten Häusern startete er den Motor und gab Gas.
Der Verkehr war an diesem frühen und nassen Mittwochmorgen noch sehr übersichtlich. Thomas hatte sich nach einigen Überlegungen für die Strecke durch die Stadt und nicht über die Dörfer entschieden. Nach nur wenigen Minuten hatte er sich an das große Motorrad gewöhnt und fuhr sicher über die Hauptverkehrsstraßen von Trier, auf deren nassem Asphalt sich das Licht der Straßenbeleuchtung diffus spiegelte.
Er war keine Viertelstunde unterwegs, als er von der innerörtlichen Bundesstraße entlang der Mosel auf die Pellinger Straße bog. Auf der Landstraße würde in neunzig Minuten der tägliche Pendlerstrom aus dem Hunsrück in die Stadt hineinkriechen wie eine riesige Schlange mit einem Muster aus weißen Scheinwerfern und unregelmäßig aufblinkenden roten Bremslichtern. Nun lag die Straße in der ausgehenden Nacht nahezu leer da. Fast schwerelos glitt die Honda hangaufwärts. Auf der rechten Seite zog sich Feyen entlang. Links tauchten die seit dem Abzug der französischen Armee leer stehenden Gebäude der früheren Castelnau-Kaserne auf. Dahinter erstreckte sich der ehemalige Standortübungsplatz
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