Tod im Moseltal
Kirgisistan. Er hatte das Tourangebot im Frühjahr in einem darauf spezialisierten Trierer Reisebüro entdeckt und sich nach zwölf Jahren wieder zu einer Urlaubsreise entschlossen. Die Eindrücke von den Wanderungen im grandios kargen und einsamen Hochgebirge und den Begegnungen mit den einheimischen Nomaden hatten ihn noch für Wochen gefangen gehalten. Es waren für ihn die schönsten vierzehn Tage seit einer Ewigkeit gewesen.
Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, gab sein Kennwort ein und begann, ungeordnet offene Fragen untereinanderzuschreiben:
Wer ist die Tote???
Wie und wann ist sie ins Haus gekommen?
Motiv???
Gibt es eine Marion Spiegelrodt bzw. Schroeder?
Wo ist die schwarze Bettwäsche?
Wo ist das Notebook?
Wie häufig ist Thomas Steyn vorher fremdgegangen? Mit wem?
Verhältnis zu den Eltern
Berufliche Situation
Feinde
Freunde
Wo war Steyn am Tag vorher?
Wo war Steyn in der Nacht (Nachbar)?
Warum so wenig Fingerabdrücke?
Wer war die Frau, die abends zu Fuß die Straße hochkam?
Reifenspuren
Er erschrak, als das Telefon klingelte. Ein Kollege von der Fahndung teilte ihm mit, dass die Kripo in Hamburg die Schulfreundin von Thomas Steyn ausfindig gemacht und aufgesucht habe. Marion Schroeder hieß nun Reens, wohnte mit drei Kindern aus drei Ehen als alleinerziehende Mutter im Stadtteil Poppenbüttel im Norden der Hansestadt. Obwohl sie zwischenzeitlich die Namen ihrer verflossenen Ehemänner angenommen hatte, tauchte der Name Spiegelrodt nicht in ihrem Lebenslauf auf. Sie hatte auch bestritten, diesen Namen jemals benutzt zu haben. An Thomas Steyn konnte sie sich zwar erinnern, sagte aber aus, dass sie mit ihm nach der Schule keinen Kontakt mehr gehabt habe. Wann sie sich das letzte Mal gesehen hätten, wüsste sie nicht mehr genau. Es müsse kurz nach dem Abitur Anfang der Neunziger gewesen sein. Am Wochenende sei sie mit ihren Kindern im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren beschäftigt gewesen. Nein, in Ulm habe sie nicht gewohnt, und in Trier sei sie nie gewesen. Sie habe auch zu Schulzeiten Thomas Steyn nicht zu Hause besucht.
Buhle legte nachdenklich den Hörer auf. Die Aussagen von Steyns Ex-Freundin Marion bestätigten dessen Aussagen bis zu dem Zeitpunkt, als sich die beiden aus den Augen verloren. Widersprachen aber genauso der Geschichte, die Steyn sich für die Zeit vor dem Mord ausgedacht hatte. Bei dem Begriff »Ex-Freundin« stutzte Buhle: War das Verhältnis der Schulfreunde Thomas und Marion nur freundschaftlich geblieben? Dazu hatte sich Steyn nicht konkret geäußert. Wenn ja, warum hatte Steyn dann für das erste Treffen nach zwei Jahrzehnten gleich den Seitensprung geplant? Buhle ergänzte seine Liste um die Zeile »Liebesverhältnis Steyn-Schroeder/Reens während Schulzeit?«. Anschließend löschte er die Frage nach ihrer Identität.
Der Hügel aus rotem Lehm und Ziegelbruch auf der Baustelle gegenüber hatte sich seit zwei Wochen lediglich in den Farbnuancen geändert, je nachdem, ob das Substrat regendurchnässt oder trocken war. Buhle verharrte regungslos mit Blick auf diesen statischen Erdhaufen. Er dachte an seine Schulzeit und den Freundeskreis, mit dem er gerne, vielleicht sogar glücklich seine Jugend verbracht hatte. Aber den Schlussstrich, den er nach dem Tod von Gerd und Moni ziehen musste, war auch für seine Freunde ein unüberwindbares Hindernis gewesen. Er hatte seitdem keinen mehr gesehen. War abgetaucht und in einer neuen Welt aufgetaucht, in der Beziehungen zu Menschen rein funktionaler Natur waren.
Paul Gerhardts stand schon eine ganze Minute im Zimmer, bis er sich entschied, seinen Chef mit einem kurzen Räuspern aus seinen Gedanken zu reißen. Schon häufiger hatte er diese völlig entrückte Abwesenheit von Christian Buhle bemerkt, und sein gut entwickelter Menschenverstand riet ihm, in solchen Situationen sehr behutsam mit ihm umzugehen.
»Christian? Ich habe dir etwas von Sabines Rollbraten mitgebracht. Du hast doch sicher noch nichts gegessen, oder?«
Jetzt registrierte Buhle den herzhaften Duft von gebratenem Fleisch, der sich langsam über die Gerüche alter Möbel, Aktendeckel und Schimmel legte. Er blickte seinen Kollegen dankbar an.
Für das Sonntagsessen, mehr noch aber für das Gefühl, mit Paul Gerhardts einen Menschen an seiner Seite zu haben, der ihm offen Sympathie entgegenbrachte, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten.
»Vielen Dank, Paul«, er versuchte ein Lächeln, »aber wir müssen los. Wir haben um zwei die Vernehmung
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