Tod im Moseltal
viel übrig hatte. So war Juliette in den vergangenen Jahren zum Bindeglied in der Familie geworden und gegenwärtig umso wertvoller.
Als Marie den Ortseingang von Trierweiler erreichte, war sie noch ganz in Gedanken: Vielleicht war doch ihr Mann von jeher die treibende Kraft im Konflikt mit dem Vater gewesen. Bis jetzt hatte sie es stets anders gesehen. Nicht der dominante, erfolgsorientierte Vater, sondern der einem inneren Befreiungszwang von der Größe des Vaters unterliegende Sohn als Verantwortlicher?
Diese neue Ahnung hätte beinahe eine dorfbekannte Katze das Leben gekostet, die wie immer und selbstverständlich andächtig die Straßenseite wechseln wollte und mit offensichtlichem Missfallen auf das Auto reagierte, das mit quietschenden Bremsen einen Meter vor ihr zum Halten kam. Marie murmelte ihre schlimmsten französischen Flüche ins Lenkrand, auf das sie ihren Kopf gelegt hatte, während die Katze sich entschloss, ohne durchaus berechtigte Strafe für diese ungestüme Fahrerin, aber dafür noch eine Spur langsamer ihren Weg über die Straße fortzusetzen.
Als sich ihr Herzschlag wieder etwas beruhigt hatte und die Katze sich bereits genüsslich im besonnten Teil eines Vorgartens rekelte, fuhr Marie weiter. Nun war sie zumindest wach genug für das Gespräch, das sie gleich erwartete.
Sie hatte das Auto noch nicht ausgemacht, als sich schon die Haustür öffnete und Juliette mit sorgenvollem Blick heraustrat. Marie versuchte ein beruhigendes Lächeln, als sie ihrer Schwiegermutter zunickte. Doch das gelang ihr genauso wenig wie ein ähnlicher Versuch von Juliette von Steyn.
»Hallo, Juliette.« Maries Umarmung fiel länger aus als bei früheren Begrüßungen.
Juliette von Steyn ging vor Marie ins Haus und geleitete sie direkt in das »Bücherzimmer«, wie sie ihren Rückzugsraum mit Unmengen von Büchern, einem kleinen Kaminofen und einer gemütlichen Sitzecke nannte. Zu Maries Überraschung saß Philipp von Steyn bereits dort. Er betrat sonst fast nie das »Zeitvernichtungszimmer«, wie er den Raum bezeichnete, wenn seine Frau ihn nicht hören konnte.
»Hallo, Philipp.«
»Hallo, Marie.«
Marie wollte sich an das andere Ende der Sitzecke setzen, wurde aber von ihrer Schwiegermutter in die Mitte dirigiert. Eine endlose Minute lang lag bedrückende Stille im Raum, die von den nahezu vollständig gefüllten Bücherregalen noch verstärkt wurde. Marie schaute zuerst Juliette, dann Philipp von Steyn in die Augen und erkannte in beiden das gleiche sorgenvolle Flackern.
»In unserem Haus ist etwas Furchtbares passiert: Eine Frau wurde ermordet. Thomas behauptet, sie weder zu kennen noch sie getötet zu haben. Trotzdem geht die Polizei davon aus, dass er der Mörder ist«, sagte Marie, während sie in die sich vor Schrecken weitenden Augen ihrer Schwiegermutter blickte. Als sie sich wieder zu Philipp umdrehte, sah sie lediglich in eine erstarrte Maske.
In der Zusammenfassung der Ereignisse wurde Marie nicht unterbrochen. Sie wartete nur einmal, damit Juliette sich ein Taschentuch holen konnte. Als sie geendet hatte, verlor sich ihr Blick in der rußigen Leere des Kaminofens. Es war kühl geworden in dem Raum.
6
Atterbach (Luxemburg); Dezember im Jahr zuvor
Er arbeitete jetzt bereits seit über zehn Jahren in Luxemburg, aber in diesen Teil des Großherzogtums hatte es ihn bislang noch nicht verschlagen. Wenn man nur in der Stadt und dort insbesondere in den Geschäftsvierteln der Banken und EU-Institutionen verkehrte, konnte man leicht vergessen, dass der Kleinstaat in der Fläche doch sehr ländlich geprägt war. Von Atterbach hatte er vorher jedenfalls noch nie etwas gehört. Überhaupt hatte er den Nordteil Luxemburgs erst einmal besucht, als er noch glaubte, das Land, in dem er arbeitete, kennenlernen zu müssen.
Er lachte kurz auf, als er sich an seinen Besuch letzte Woche in der »Taverne luxembourgeoise« bei Arlon erinnerte. Als er die Nutte das erste Mal gesehen hatte, hatte er sie wahrscheinlich wie ein Gespenst angestiert. Es war unglaublich. Dennoch hatte er sich anschließend nichts anmerken lassen; und erst als er sie nahm, hatte er erkannt, dass es eine andere Frau sein musste. Nie hätte er gedacht, dass sich zwei Menschen so ähnlich sein konnten. Bella hatte sich dann als Deutsche von der Mosel entpuppt. Von dem Kollegen, der ihm den Club empfohlen hatte, erfuhr er, dass sie Isabelle Girardot hieß, mit einem Luxemburger verheiratet und nach der Scheidung ins horizontale Gewerbe
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