Tod im Moseltal
den ersten Sonnenstrahlen seit langer Zeit dazu verführen lassen, auf ihre Winterjacke zu verzichten. Es tat gut, eine Zeit lang auf ihrem Lieblingsplatz verweilen zu können.
Hier hatte sie schon als Kind gesessen und über ihre Eltern nachgedacht, wenn ihre Großmutter mit ihr wieder einmal einen Ausflug von Bertrange ins Müllerthal gemacht hatte. Marie war drei Jahre alt gewesen, als ihr Vater Gibril Benlassin bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam. Wirklich an ihn erinnern konnte sie sich nicht mehr; ihr waren lediglich die wenigen Fotografien eines kleinen, stoppelbärtigen Mannes mit dunkel gegerbter Haut als statische Bilder im Gedächtnis geblieben. Seine tiefen Grübchen hatte sie geerbt, und immer wenn sie sich als kleines Mädchen für ihn im Spiegel anlächelte, tat sie es in der Gewissheit, dass er ein guter Mensch gewesen war.
Mit diesem Gedanken konnte sie später als Jugendliche weniger gut umgehen. Sie fühlte sich verpflichtet, an seiner statt etwas Gutes zu tun, weil er es selbst nicht mehr konnte. Ganze Wochenenden hatte sie auf dem Adlerhorst verbracht und darüber nachgedacht, wie sie Menschen helfen, die Natur schützen oder am besten gleich die ganze Welt retten könne. Hier, mit dem weiten Blick über das Sauertal, hatte sie auch den Entschluss gefasst, Psychologie zu studieren. Bereut hatte sie das nie. Wie sie eigentlich selten einen Entschluss bereute, den sie auf dem Adlerhorst gefasst hatte. Nein, auch nicht den Entschluss, Thomas Steyn als ihren Mann auszuwählen. Bisher.
Maries Verhältnis zu ihrer Mutter war von einer großen Distanz geprägt. Rosalie hatte sie noch am Tag der Beerdigung ihres geliebten Mannes ihrer Mutter mit nach Luxemburg gegeben. Zu diesem Zeitpunkt war Rosalie schwanger und erwartete Maries Bruder. Doch Pierot erblickte nicht das Licht der Welt. Sechs Wochen vor dem Geburtstermin hörte sein Herz im Körper seiner Mutter auf zu schlagen. Rosalie tauchte ab. Über Jahre war sie auf die Hilfe der klinischen Psychiatrie angewiesen. Erst als es keiner mehr für möglich hielt, bekam sie ihr eigenes Leben wieder in den Griff. Doch davor war für Marie kein Platz in ihrer Welt gewesen.
Es war Maries Glück im Unglück. Bei ihrer Großmutter Edith Noiret, die früh einen Luxemburger geheiratet hatte, um ihn ebenso früh wieder zu verlieren, war Marie bestens aufgehoben. Edith war froh darüber, mit dreiundfünfzig Jahren noch einmal »Mutter einer so liebenswürdigen Tochter« zu werden.
Marie empfand bis zum heutigen Tag die ungeheure Wärme, die von diesem Kompliment ausging. Für sie bedeutete ihre Großmutter alles. Umso furchtbarer traf es sie, als Edith an Krebs erkrankte, kurz nachdem Marie angefangen hatte, in Trier zu studieren. In den Wochen zwischen Diagnose und Tod hatte sie ihre Großmutter nur verlassen, um sich auf dem vierzig Kilometer entfernten Adlerhorst die Seele aus dem Leib zu heulen. Noch schrecklicher war die Zeit danach gewesen. Dass sie sich wieder fing und weiterstudieren konnte, war nur dem Versprechen zu verdanken gewesen, das sie ihrer Großmutter in deren letzter Lebenswoche gegeben hatte. Marie musste ihr zusichern, eine gute Psychologin zu werden, die den Schwachen zur Seite stand.
In der Silvesternacht 1998 lernte sie Thomas Steyn kennen. Sie ahnte da noch nicht, dass diese Begegnung für sie eine wertvolle Fügung war. Als Thomas sie im Sommer zu seiner Großmutter Claudille nach Luxemburg mitnahm, war es für sie wie ein Traum: Sie fuhren die schmale Straße entlang der skurrilen Felsen hinauf nach Berdorf bis zu dem Ort, der Ausgangspunkt für jede ihrer Wanderungen zum »Adlerhorst« war.
Marie und die alte Frau verstanden sich auf Anhieb wie Seelenverwandte. So eine innere Nähe hatte sie zuvor nur bei ihrer Großmutter empfunden. In den folgenden Jahren wurde Claudille zu Maries engster Vertrauter. Mit ihr kam die Freude in Maries Leben zurück, sie war die Erste, die noch vor Thomas von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Bald gab es keine Entscheidung mehr, die Marie ohne Rücksprache mit Claudille fällte. Für Thomas war das anfangs ein Problem. Als er aber merkte, wie fröhlich und ausgelassen seine ansonsten durchaus zur Schwermut neigende Freundin in Berdorf war, akzeptierte er die seiner Meinung nach zu häufigen Besuche. Zudem ergab sich über Marie, seine Oma und seine Mutter ein Frauenbündnis, das zu einer leichten Entspannung im Innenverhältnis der Familie beitrug. Schließlich wunderte es keinen, dass es Marie
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