Tod im Moseltal
anders. Diese Streitereien im familiären Alltag gab es nicht mehr. Philipp und Juliette fanden wieder zueinander, und für Michelle war es eine Erlösung, dass ihr Bruder nur noch in den Ferien und auch da nur zeitweise zu Hause war. Thomas veränderte sich. Er war nicht mehr gänzlich auf Konfrontation aus. Zog sich zu Hause eher zurück und war, sagen wir mal, erträglich. Er war dann häufig bei mir und zog allein durchs Müllerthal. Zu mir hatte er ohnehin ein enges Verhältnis und ließ seine Spielchen sein. Juliette hat mir das manchmal sogar geneidet.«
Claudille hielt kurz inne. Marie konnte regelrecht sehen, wie sie nach den richtigen Worten suchte. »Wir alle dachten, dass es tatsächlich an diesem besonderen pädagogischen Ansatz seiner neuen Schule lag. Gab es am Anfang durchaus noch kritische Rückmeldungen von seinen Lehrern, waren nach einiger Zeit auch dort alle ganz zufrieden mit ihm. Einen größeren Freundeskreis hatte er zwar nicht, aber es gab wohl ein Mädchen, mit dem er viel zusammen machte. Dazu kam, dass er in der Schule richtig gut wurde. Ich kann mich an Osterferien erinnern, da kam er mit einer Kiste Bücher an. Alles hatte irgendwas mit Physik, Technik und Energie zu tun. Er tat nichts anderes als lesen. Als ich ihn fragte, ob er das alles für die Schule bräuchte, meinte er nur ganz erstaunt: ›Quatsch, Oma. Für die Schule brauchst du doch so was nicht.‹ Ich dachte mir, dass er die Auseinandersetzung mit seinem Vater nun auf dieser fachlichen Ebene ausfechten wollte. Aber dabei ist es leider nicht geblieben. Du weißt, wie Philipp reagierte, als er von der unleidigen Geschichte mit dem Adelstitel erfuhr?«
Marie zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hat er getobt und mit Enterbung gedroht.«
»Nein, hat er nicht. Er war zutiefst niedergeschlagen und das erste Mal über eine längere Zeit krank. Aber das eigentlich Schlimme war, dass Thomas das genossen hat. Als Juliette mir das unter Tränen erzählte, habe ich ihn zu mir bestellt. Als er auch mir gegenüber seine Genugtuung nicht verhehlen konnte, habe ich ihm gesagt, dass ich ihn eine Zeit lang nicht mehr sehen wolle. Erst drei Jahre später hat er mich wieder besucht, als es mir gesundheitlich so schlecht ging und ich im Krankenhaus lag. Er hat sich bei mir entschuldigt und gesagt, dass seine wilden Jahre langsam vorbei seien.« Claudille sah Marie mit weichem Blick an. »Ich habe es akzeptiert, und das war wohl eine meiner besten Entscheidungen. Sonst hätten wir beide uns vielleicht nie richtig kennengelernt.«
Marie nahm die dünnhäutigen, wie Pergamentpapier knittrigen Hände von Claudille in ihre und streichelte sie sanft. »Ja, das wäre fatal gewesen, meine liebe Claudille. Aber warum habt ihr alle mir gegenüber nie etwas gesagt? Schließlich bin ich doch Toms Frau, bin ein Teil eurer Familie. Hätte ich nicht das Recht gehabt, Bescheid zu wissen?« Mit leiser werdender Stimme fügte sie hinzu: »Und gewarnt zu werden?«
»Ich glaube, wir waren alle so froh, dass diese schlimme Zeit zurücklag, dass Thomas doch noch seinen Platz gefunden, dass er dich gefunden hatte. Ich glaube, du ahnst nicht, wie sehr deine Schwiegereltern dich lieben und schätzen.«
Marie hob erstaunt die Augenbrauen.
»Ja, Marie, auch Philipp, wenn er es auch nicht zeigen kann. Ich glaube, er hat den Verlust seines Sohnes bis heute nicht verkraftet. Er liegt wie ein Schatten auf seiner Seele.«
Sie saßen noch eine Weile in der Küche und hingen ihren Gedanken nach. Auch wenn sie sich in unterschiedlichen Richtungen und Zeiten bewegten, so kreisten sie doch beide um Thomas. Als Marie ihren inneren Blick wieder aus den Weiten ihres gedanklichen Universums in die stille Küche lenkte, bemerkte sie, dass Claudille lautlos weinte. Das erste Mal, seit sie sie kannte.
Eine knappe Stunde später fuhr Marie mit dem alten Alfa Romeo Spider über den Höhenrücken der Luxemburger Schweiz Richtung Süden.
Das Gespräch mit Claudille hatte sie sehr nachdenklich gemacht. War es tatsächlich möglich, dass sie mit ihren Kenntnissen, mit ihrem Gespür, was die Psyche anderer Menschen anging, so wenig Ahnung von ihrem Mann hatte? Dem Mann, mit dem sie seit über zehn Jahren zusammenlebte, zwei Kinder hatte und ehemals Schwüre ausgetauscht hatte, bis ans Ende ihrer Zeit füreinander da zu sein? Weshalb hatte sie nie hinterfragt, warum die Spannungen zu seinem Vater bestanden? Wie hatte sie sich mit der einfachsten aller Möglichkeiten
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