Tod im Moseltal
war, die die Rede zur großen Feier des achtzigsten Geburtstags von Claudille hielt. Eine Rede, die in die jahrhundertealte Familiengeschichte der von Steyns einging, weil wohl vorher nie so viele Tränen der Rührung, der Freude und des Lachens vergossen worden waren wie in diesen zwanzig Minuten. Es war das erste und letzte Mal gewesen, dass Philipp von Steyn seine Schwiegertochter innig herzte.
Davon war er weit entfernt gewesen, nachdem Marie gestern die Tragödie um seinen Sohn geschildert hatte. Als sie sich kurz vorm Weggehen noch einmal zu ihm umdrehte, sah sie den souveränen Macher und Schaffer Philipp von Steyn apathisch als gebrochenen Mann dasitzen.
Marie hatte mit ihrer Schwiegermutter vereinbart, dass sie heute zunächst Claudille über alles informieren und anschließend die Kinder aus Metz abholen würde. Juliette würde ihrem Mann zur Seite stehen und außerdem versuchen, ihren Sohn im Gefängnis zu besuchen. Sie waren sich einig, dass die Familie von Steyn noch nie so starke Frauen benötigt hatte wie jetzt. Doch im Augenblick fühlte sich Marie alles andere als stark.
Sicher, es war ein verabscheuungswürdiger Verrat an ihr und den Kindern, dass Thomas Ehe und Familie auf diese profane Art und Weise aufs Spiel gesetzt hatte. Deshalb brauchte sie Distanz zu ihm, auch wenn sie wusste, dass er gerade jetzt ihre Gegenwart benötigte. Doch trug sie nicht auch eine gehörige Mitschuld? Hatte sie nicht all die Signale ignoriert, die Thomas’ Unzufriedenheit widerspiegelten? Hatte sie sich nicht selbst verleugnet, als sie fehlende Lust und Leidenschaft an den Kindern und der Dauer der Beziehung festmachte, statt sich einzugestehen, dass ihre Gefühlswelt aus den Fugen geraten war? Dass die Verliebtheit der ersten Jahre nicht von einer vertrauten Liebe ersetzt wurde? Dass sie ihn als guten Vater ihrer Kinder anerkannte, statt ihm als Ehemann zu vertrauen?
Claudille hatte es geahnt. Sie war vorhin natürlich schockiert gewesen, als sie von dem Mord erfuhr. Doch der nüchtern kalkulierte Seitensprung ihres Enkels hatte sie nicht überrascht. Was war das noch für eine Beziehung, bei der eine Dreiundachtzigjährige im Nachbarland mehr Durchblick zu haben schien als sie selbst?
Marie schaute auf ihre Uhr und erschrak. So lange hatte sie gar nicht draußen bleiben wollen. Claudille wartete bestimmt schon mit ihrer Lieblingssuppe auf sie. Mühsam stand sie auf und streckte ihre steifen Arme und Beine, ließ noch einmal den Blick schweifen, so wie sie es immer zum Abschied machte, und ging den so lang vertrauten Weg vom Sandsteinfelsen durch den herbstlich gefärbten Laubwald zurück nach Berdorf.
Als sie die alte verzierte Holztür des traditionellen bäuerlichen Hauses öffnete, empfing sie der herzhafte Duft der von ihr so geliebten »Bouneschlupp«, der in Luxemburg traditionellen Grüne-Bohnen-Suppe. An dem erleichterten Lächeln ihrer Schwiegeroma konnte sie ablesen, dass sie sich schon Sorgen gemacht hatte. Als Begrüßung reichten der warme Blick und die lange anhaltende Umarmung, bevor Claudille ohne ein Wort zum Herd trat und die bereitstehenden Teller mit Suppe füllte. Marie hatte schon nächtelang mit der alten Frau am Küchentisch gesessen und geredet. Über Familiäres oder berufliche Entscheidungen, aber auch über politische und gesellschaftliche Themen. Doch die alte Frau wusste, in welchen Augenblicken Worte nicht das aussagen konnten, was kleine Gesten vermochten. Es waren die Momente, in denen Marie vor Liebe und Dankbarkeit fast zerfloss.
Als beide ihre Mahlzeit schweigend beendet hatten, ergriff Claudille leise das Wort: »Wirst du Thomas noch helfen können, nach dem, was geschehen ist?«
Marie goss sich noch etwas von dem frisch gekelterten Apfelsaft ein und vermischte ihn mit ein wenig Sprudel. Doch sie trank nicht, sondern drehte das Glas in ihren Händen und schaute in die Schorle wie in eine Glaskugel.
Nach einer Weile hob sie den Blick. »Habe ich eine Wahl? Tom bleibt der Vater meiner Kinder, und was soll ich sagen – ich glaube immer noch, dass er es nicht getan hat. Kannst du dir vorstellen, dass Thomas einen Menschen umgebracht hat?«
Claudille schien kurz überlegen zu müssen. »Nein, normalerweise nicht.«
Marie schloss kurz die Augen. Als sie wieder sprach, lag eine deutliche Unsicherheit in ihrer Stimme. »Wieso normalerweise?«
Erneut verstrichen einige Sekunden, bis Claudille antwortete: »Als was hast du Thomas kennengelernt: als liebevollen Vater? Als
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