Tod im Moseltal
Charmeur? Als Idealisten? Als Karrieristen?«
Marie nickte zunächst bestimmt, dann immer weniger nachdrücklich.
Claudille fuhr fort: »Ja, du hast recht. Das alles ist er. Es steckt viel Gutes in ihm. Aber wie jeder Mensch hat auch er Seiten, die weniger gut sind. Hast du ihn schon einmal erlebt, wenn er glaubt, jemandem unterlegen zu sein?«
Marie schüttelte den Kopf. Nein, tatsächlich hatte sie ihren Mann in einer solchen Situation nie gesehen. Tom hatte sich in beruflichen Dingen stets souverän gezeigt. In der Familie hatte er immer die Position des Ernährers innegehabt, die er jedoch nie gegen sie ausgespielt hatte. Im Freundeskreis gab es ebenfalls keine diesbezüglichen Konflikte, da Tom sich gut darstellen konnte und damit auch klügeren Bekannten ebenbürtig war. Eigentlich gab es nur einen, von dem Marie sicher annahm, dass Tom sich ihm unterlegen fühlte, allerdings ohne dass er das jemals eingestehen würde.
»Ich glaube, Philipp ist der Einzige, von dem ich denken würde, dass Thomas sich ihm unterlegen fühlt. Aber da die beiden sich nur selten sehen und dann zwei auseinanderdriftende Eisberge mimen, kam es nie zu wirklichen Auseinandersetzungen, zumindest nicht, solange ich dabei war.« Marie hob die Schultern. »Nein, ich glaube, ich hab ihn noch nie erlebt, wenn er sich unterlegen fühlte.«
»Es stimmt, er hat sich arrangiert. Führt mit seinem Vater eine Art friedliche Koexistenz. Er hat sich beruflich freigeschwommen und offenbar die für ihn richtigen Bekannten gefunden.«
Claudille zögerte ein wenig. »Das war früher aber anders. Als Kind war er schwierig. Er musste immer im Mittelpunkt stehen. Das fing schon im Kindergarten an. Deine Schwiegermutter wurde nicht nur einmal zu Unterredungen zitiert. Thomas hatte eine Art, andere Kinder bis zur Weißglut zu piesacken, indem er sie stetig weiterärgerte, nie die Grenze erkannte, wann es genug war. Damit stand er dann im Mittelpunkt, und gleichzeitig traute sich keiner an ihn ran. In der Grundschule war er entweder Bandenchef oder aber der erbitterte Feind eines Bandenchefs. Schon da zeigte es sich, dass er durchaus hinterlistig sein konnte, wenn es darum ging, einem anderen etwas in die Schuhe zu schieben. Zu der Zeit dachten wir alle noch, er wäre halt ein etwas zu rüpelhafter Lausbub.«
Marie hatte ihre Freundin noch nie so traurig gesehen. Als Claudille fortfuhr, war ihre Stimme eine Spur leiser geworden.
»Philipp konnte damit allerdings nur schlecht umgehen. Es gab immer häufiger Streit zwischen Thomas und ihm. Fast unerträglich wurde es, als er aufs Gymnasium kam. Hier gab es ganz andere Hierarchien unter den Schülern. Thomas war alles andere als beliebt, weil er ständig aneckte, stänkerte, provozierte. Er hatte keine Freunde, Ärger mit den Lehrern, Eltern beschwerten sich über ihn. Zu Hause war es nicht besser. Philipp und er kamen gar nicht mehr miteinander aus, und Juliette zerbrach fast an dem Versuch, zwischen Vater und Sohn zu schlichten. Und irgendwann hatte Thomas seine kleine Schwester als Opfer ausgemacht. Michelle wurde Tag und Nacht getriezt, bis sie völlig verängstigt war.«
Claudille nahm ein Papiertaschentuch aus der Schublade des alten Esstisches und schnäuzte sich. »Vielleicht hätte es geholfen, wenn man mit ihm frühzeitig zu einem Kinderpsychologen gegangen wäre. Aber zu der Zeit und im Hause von Steyn war so etwas kein Thema. Vielmehr wollte Philipp ihn einfach nur noch loswerden. Er hatte schon ein Internat auf einer Nordseeinsel ausgemacht, ich meine, auf Spiekeroog. Die Schule war teuer und anerkannt. Er dachte wohl, die Enge der Insel und die Strenge der Lehrer würden ihn bändigen können. Aber dann hatte Juliette diese Reformschule im Odenwald ins Spiel gebracht. Das klang damals unglaublich gut. Wenn man aber heute das mit dem Missbrauch liest …«
Marie hatte aufmerksam zugehört. Was Claudille erzählte, war ihr unbekannt. Thomas selbst hatte seine Jugend immer auf den Vater-Sohn-Konflikt reduziert und sonst wenig offenbart. Wegen des ablehnenden Verhaltens, das Philipp von Steyn auch ihr gegenüber an den Tag legte, war sie bislang immer der Meinung gewesen, dass der Grund für die Spannungen eher beim ehrgeizigen und arbeitsbesessenen Vater liege. Nun ergab alles plötzlich ein ganz anderes Bild.
»Warum habt ihr mir nie etwas gesagt? Ich hatte keine Ahnung. Seine Kindheit war nie ein Thema.«
Claudille sah ein wenig schuldbewusst drein. »Mit dem Internat wurde es ja auch
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