Tod im Moseltal
hier bewusst?«
Tatsächlich waren Marie und die im Bereich der Essensausgabe arbeitenden Angestellten die einzigen Frauen im gesamten Gebäude. Marie Steyn ließ den Blick noch einmal schweifen, als ob sie einen analytischen Scan der um sie sitzenden Personen machen wollte.
»Nein, daran dürfte noch keiner einen Gedanken verschwendet haben. Diese Menschen werden sicher nicht hier eintreten und denken: Jetzt tue ich was Gutes für meine Seele. Die wollen einen Kaffee, die Bild-Zeitung oder das Tagesessen, egal, was es gibt. Wichtig ist, dass sie ein inneres Signal mit der Meldung »Bieg jetzt ab« erhalten, und darauf hören. Bei vielen Menschen ist diese interne Kommunikation gestört. Sie verstehen oder hören diese Signale nicht mehr. Irgendwann verschwinden sie dann ganz. Wenn etwas unsere zunehmend funktions- und leistungsorientiertere Gesellschaft prägt, dann ist es das systematische Ignorieren unserer eigenen Hilferufe. Die beste Voraussetzung dafür, irgendwann zusammenzubrechen oder auszurasten.«
Christian Buhle hörte in sich hinein. Er vernahm nichts, schon lange nicht mehr. Sein eigener Signalgeber hatte damals, vor dreiundzwanzig Jahren, nicht überlebt. Einen Nachfolger hatte er niemals zugelassen.
Er bemerkte die dunklen, auf ihn gerichteten Augen erst spät, die sich für eine kurze Zeit Eintritt in die Vorräume seines Inneren verschafft hatten. Brüsk warf er sie raus und knallte die Tür zu. »Ich geh jetzt noch auf die Toilette, und danach müssen wir weiter, wenn wir noch die Chance haben wollen, mit Marion Reens zusammenzutreffen.« Er wusste, dass sein Ton zu schroff war und Marie eigentlich hätte vor den Kopf stoßen müssen und sollen. Aber ihr Blick haftete weiter auf ihm, mit einer Prise Trauer, doch ohne Überraschung oder gar Vorwurf.
Bis Münster hatte sie ihm die gesamte Lebensgeschichte der Familie Steyn erzählt. Er hatte natürlich weiter zugehört und gezielte, möglichst diskrete Fragen gestellt. Doch gleichzeitig beschäftigte ihn, was sie während der Rast gesagt hatte. Danach schwiegen beide eine Weile, und er hing seinen eigenen Gedanken nach.
Nördlich von Osnabrück sagte Marie plötzlich: »Herr Buhle, wo kommen Sie eigentlich her?«
Er erschrak über die Frage. Wie immer, wenn einer Fragen zu seiner Vergangenheit stellte. »Wieso wollen Sie das wissen?«
»Es interessiert mich. Außerdem habe ich gerade darüber nachgedacht, dass ich so gut wie keine Norddeutschen kenne. Aber vielleicht kommen Sie ja von hier?«
»Nein, ich bin in Köln geboren.«
»In Köln?« Marie Steyn konnte ihre Überraschung nicht verhehlen.
»Ja, das merkt man dem spröden, unlustigen Kommissar nicht an, oder?«
»Nein, ja, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber zugegeben, ich hatte Sie eher hier in die Einöde als ins lebensfrohe ›Kölle‹ gesteckt.«
Buhle nickte etwas verdrießlich, und Marie schwieg wieder.
Um die Mittagszeit beschlossen sie, bei einer weiteren Pause nur kurz zu halten und lieber abends in Hamburg etwas zu essen. Auf der letzten Etappe fasste er noch einmal alle Erkenntnisse über Marion Reens zusammen. Er war jetzt wieder ganz der Ermittler: sachlich, analytisch, überlegt.
»Was ist, wenn sie nicht mit uns reden will?«, fragte Marie Steyn.
»Tja, dann wird es schwierig. Ich kann mich noch nicht einmal an die Hamburger Kollegen wenden, weil ich gar nicht mehr ermitteln darf. Schon dass ich mit Ihnen hier bin, ist für mich dienstrechtlich äußerst kritisch. Will Marion Reens nichts mit uns zu tun haben, war die Fahrt umsonst. Aber das Risiko war uns ja bewusst.«
Marie Steyn überlegte kurz. »Was meinen Sie, sollte ich vielleicht das Gespräch mit ihr führen? Dann ist es auf jeden Fall schon einmal kein Verhör.«
»Ja, das könnte eine Möglichkeit sein.« Sollte er sich auch noch von Marie Steyn seine Arbeit aus der Hand nehmen lassen? Es widerstrebte ihm vollkommen. Gleichzeitig wusste er, dass sie recht hatte. Ohne seine Autorität als Polizist gab es keinen Grund, warum Marion Reens ihm irgendetwas sagen sollte. Eine Garantie gab es auch bei Marie nicht, aber die hatte wenigstens ein Motiv, das ein Gespräch auch für Reens nachvollziehbar erscheinen ließ.
»Könnte oder ist es eine gute Idee?« Marie Steyn hatte das »ist« bewusst betont und schaute ihn fordernd von der Seite an.
Er nickte leicht, aber nachdrücklich und sagte mit dem Anflug eines Lächelns: »Es ist eine gute Idee.«
Poppenbüttel lag nördlich von Fuhls-, Hümmels-
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