Tod im Palazzo
und gebrechlich, sondern hatte offensichtlich auch einen religiösen Tick. Mein Gott… »Verschwinden Sie! Verschwinden Sie!«
Als sie, an den Türrahmen gestützt, drohend ihren Stock erhob, trat der Wachtmeister einen Schritt zurück.
»Haben Sie nicht gehört? Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei!«
Die Tür wurde ihm vor der Nase zugeknallt.
Der Wachtmeister wischte sich über die Stirn, setzte die Mütze wieder auf und drehte sich um. Es machte ihm nichts aus. Er hatte unendliche Geduld mit alten Leuten, und er wußte, daß die Hexe, die ihm heute mit dem Stock gedroht hatte, ihn am nächsten Tag höchstwahrscheinlich zu einem Kaffee einladen würde, als ob nichts geschehen wäre. Trotzdem war er noch immer von tiefer Besorgnis und Unruhe erfüllt, als er den Hof überquerte und dem Ausgang zustrebte. Er wollte dieses Haus, das ihn so sehr bedrückte, möglichst schnell verlassen. Die Düsternis und die unaufhörlichen Klavierklänge – und heute kamen sie sicher von woanders her. Am Fuß der Treppe blieb er stehen. Die Musik kam von dort oben, und eine laute Frauenstimme rief Kommandos dazu. Die Ballettschule, das war es. Dorthin waren die beiden Mädchen die Treppe hinaufgestürmt, weil sie sich verspätet hatten.
Vor dem Ausgang kam ihm eine weitere Gruppe von Mädchen entgegen, ältere, langbeinige Mädchen mit weißen T-Shirts und großen Taschen, die sie über der Schulter trugen. Der Wachtmeister öffnete das Tor und ließ ihnen den Vortritt. Sie schienen alle sehr langes Haar zu haben. Alle plapperten laut durcheinander, und er dachte an die Bemerkungen des Engländers, versuchte, sich das eisige Gesicht der Marchesa vorzustellen, wenn sie ihr begegneten. Er ging durch das Tor, hörte ihre Stimmen, die durch das Treppenhaus schallten und sich dann verloren, sobald das erste Geschoß erreicht war. Die vordere Tür hatten die Mädchen offenstehen lassen, sicher noch so etwas, was der Marchesa nicht paßte. Während er schon nach der Türklinke greifen wollte, ging die Tür wie von selbst auf. In Erwartung einer dritten Gruppe von Mädchen trat er zurück, doch es war ein junger Mann, der hereinkam, ihn freundlich begrüßte und mit einem Schlüssel das innere Tor aufschloß. Der Wachtmeister starrte ihm hinterher. Er hatte alle Mieter kennengelernt, aber das war, wenn er seinem Urteil trauen durfte, niemals der Sohn der Ulderighi, und auch ganz bestimmt nicht der Sohn des Portiers. Er sah viel zu… »Na so was!«
Der junge Mann, wer immer er war, hatte sich mit einem Schlüssel zu dem angeblich leeren Atelier von Catherine Yorke Zutritt verschafft.
»Mist!«
Die Tür war ins Schloß gefallen. Er kam eine Sekunde zu spät. Warum war er nur so langsam? Jetzt mußte er beim Portier klingeln, um wieder hineinzukommen. Der Portier sah alles andere als begeistert und nicht wenig überrascht aus.
»Ich dachte, Sie…«
»Machen Sie auf!«
Sobald er eingetreten war, fauchte er den Portier an: »Sie haben mir gesagt, die Wohnung der Engländerin ist leer, das Atelier dort.«
»Ist es auch.«
»Ich habe gerade jemand hineingehen sehen. Wer war das?«
»Ich habe niemanden gesehen.«
Der Wachtmeister wandte sich mit einem frustrierten Seufzer ab und ging über den Hof. Wer immer dort in der Wohnung war, er war nicht allein. Er sprach zu jemandem, und zwar mit lauter, wütender Stimme. Als er vor der Tür stand, hielt die Stimme inne. Er blieb auf der Schwelle stehen.
»Doch sterben muß sie… Nein… Doch sterben muß sie…«
Ein unverständliches Gemurmel, und dann: »Lösch aus das Licht!«
Der Wachtmeister klingelte.
Die Tür ging auf und vor ihm stand der junge Mann, der vor ihm durch das Tor gegangen war. In der Hand ein Glas, neugierig und ein wenig überrascht, guckte er den Wachtmeister an.
»DürfteichSieeinenMomentsprechen?«sagteder Wachtmeister stirnrunzelnd.
»Natürlich. Ist was nicht in Ordnung?«
DaderWachtmeisternichtantwortete,fügteerhinzu: »Kommen Sie lieber rein.«
Der Wachtmeister trat wortlos ein. Das Zimmer war so klein wie das Jagdzimmer nebenan. Ein schmales Bett, ein Bücherregal, ein Arbeitstisch, eine Duschkabine und ein Stuhl, mehr paßte nicht hinein.
»Setzen Sie sich!«
Der junge Mann bot ihm den Stuhl an.
»Nein… Nein danke. Ich habe vom Portier erfahren, daß dieses Zimmer an eine junge Engländerin vermietet ist. Catherine…«
Er suchte nach seinem Notizbuch.
»Yorke«, sagte der junge Mann, »Catherine Yorke. Ich bin ihr Bruder, William
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