Tod im Pfarrhaus
überhaupt nicht zugehört. Sie saß genauso reglos da wie zu Anfang. Irene sah Glen an und zuckte resigniert die Achseln. Plötzlich stieß Rebecka je doch ein heiseres Stöhnen aus. Irene beugte sich vor und versuchte, Augenkontakt mit der jungen Frau aufzunehmen. Doch das war unmöglich. Sie starrte immer noch beharrlich auf den Fußboden. Versuch te allerdings, ihre trockenen Lippen zu bewegen. Mühsam stieß sie ein kaum hörbares Nein hervor.
Ihre Lippen waren wund und rissig. In den Mundwinkeln hing zäher, gelbweißer Speichel. Schwerfällig bewegte sich ihre Zunge in ihrer knochentrockenen Mundhöhle.
Fieberhaft überlegte sich Irene, was sie jetzt sagen könnte, ohne damit Rebecka wieder zum Verstummen zu bringen. Vorsichtig meinte sie:
»Wenn Sie Nein sagen, Rebecka, meinen Sie damit, dass Sie es weder Ihren Eltern noch Jacob erzählt haben?«
»Nein«, antwortete sie leise.
Sicherheitshalber wiederholte Irene ihre Frage noch einmal:
»Sie haben Ihrer Familie also nichts von dem Pädophilenring erzählt?«
»Nein«, flüsterte sie erneut.
Rebecka hatte sich während ihres Gesprächs nicht im Mindesten bewegt, aber jetzt wandte sie Irene den Kopf zu. Ihre Blicke begegneten sich, und Irene meinte, ihr Herz würde für ein paar Sekunden aussetzen. In Rebeckas Augen fand sich nur noch ein bodenloses Dunkel.
»Nein«, wiederholte Rebecka.
Vergebens versuchte sie, ihren nicht vorhandenen Speichel hinunterzuschlucken.
»Sie war … krank. Ich musste sie … schützen«, presste sie schließlich über die Lippen.
Ein Röcheln schüttelte plötzlich ihren Körper, und sie schlug die Hände vors Gesicht. Unendlich langsam begann sie, sich hin und her zu wiegen und murmelte:
»Meine Schuld. Alles … meine Schuld.«
Das Röcheln hallte im Zimmer wider, und Irene kam sich vollkommen hilflos vor.
»Das muss jetzt reichen. Sogar Sie müssen sehen, dass das grausam und sinnlos ist«, entschied Doktor Fischer.
Irene schaute erneut auf Glen, der ratlos den Kopf schüttelte. Rebecka schaukelte immer noch mit den Händen vor dem Gesicht hin und her, aber sie hatte aufgehört zu röcheln. Es hatte keinen Sinn, weiterzumachen, entschied Irene.
Plötzlich tauchte eine kräftige, grauhaarige Frau in der Tür auf. Irene hatte sie nicht kommen hören, obwohl sie so riesig war. Sie trug einen beigen Sommermantel und schien direkt von der Straße zu kommen. Offenbar hatte sie einen Schlüssel zur Praxis.
»Gut, Marion. Wir fahren Rebecka direkt zur Klinik«, sagte Fischer.
Ohne die Beamten zu begrüßen oder sie auch nur eines Blickes zu würdigen, trat Marion in ihren stabilen Joggingschuhen auf Rebecka zu. Vorsichtig legte sich die Frau einen von Rebeckas Armen um den Hals und half ihr dann auf die Beine. Indem sie sich Rebeckas anderen Arm um die Taille legte, gelang es ihr, den willenlosen Körper Richtung Tür zu schleifen. Ohne den Kopf umzudrehen, sagte sie zum Arzt:
»Das Auto steht vor dem Haus.«
»Ich komme sofort«, erwiderte dieser.
Demonstrativ klaubte er ein paar Papiere von dem im Übrigen leeren und glänzenden Schreibtisch zusammen und steckte sie in eine dünne Mappe aus weichem, nougatfarbenem Leder. Er sah sie an und machte dann eine auffordernde Handbewegung in Richtung Tür:
»Bitte schön.«
Was hatte dieser Mann eigentlich für ein Verhältnis zu Rebecka? In Anbetracht seines Interesses an jungen Frauen war ein sexuelles Verhältnis nicht auszuschließen. Aber das wollte nicht so recht zu Rebeckas Zustand passen. Irene kam ein Gedanke: Stand Rebecka unter Drogen? Möglicherweise zwang sie der Arzt, schwere Psychopharmaka zu nehmen?
Als sie die Treppen in dem riesigen Treppenhaus hinuntergingen, schwirrten verschiedene Gedanken durch Irenes Kopf. Sie verwarf einen nach dem anderen. Ein schwarzes Auto brauste genau in dem Augenblick davon, als sie aus dem Haus traten. Irene sah Rebeckas bleiches Gesicht auf dem Rücksitz. Neben ihr saß John Fischer.
Irene besprach ihre Überlegungen mit Glen. Er war ganz ihrer Meinung. Rebecka war wirklich krank, aber ihr Arzt benahm sich tatsächlich äußerst merkwürdig.
Irene wollte gerade sagen, dass sie sich doch am besten in einem netten Restaurant beim Mittagessen über die Entwicklung der Ereignisse unterhalten sollten, als aus ihrer Jackentasche die Marseillaise zu dudeln begann. Eilig zog sie ihr Handy heraus.
»Irene Huss.«
»Hier ist Hannu. Ich habe schon früher versucht, dich zu erreichen, aber da warst du wohl noch im Flugzeug.
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