Tod im Schärengarten
gefliesten Wände waren schmutzig und es roch schwach nach altem Urin. Nora rümpfte unwillkürlich die Nase und beeilte sich, auf den Bahnsteig zu kommen. Sie war erleichtert, als wenig später der Zug einfuhr und sie einsteigen konnte.
Auf dem Sitz lag ein vergessenes Exemplar der Gratiszeitung Metro . Aus alter Gewohnheit blätterte sie zerstreut darin. Sie blieb bei einem Artikel über das Stockholmer Amtsgericht und die langen Bearbeitungszeiten hängen. Es konnte Jahre dauern, bis ein Fall von Misshandlung vor den Richter kam. In der Zwischenzeit vergaßen die Zeugen, was sie gesehen hatten, und das Opfer war so eingeschüchtert, dass es schwieg. Nichts Ungewöhnliches für eine Institution, die seit vielen Jahren chronisch unterbesetzt war. Aber es genügte, um die Menschen wütend zu machen und ihren Glauben an das Justizsystem zu untergraben.
Und mit aller Berechtigung. Es war ein Unding, die Menschen so lange darauf warten zu lassen, dass ihnen Gerechtigkeit widerfuhr. Was nützte es, die Polizeikräfte aufzustocken, wenn es niemanden gab, der sich um die Ergebnisse ihres Einsatzes kümmerte, dachte Nora.
Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre Zeit als Gerichtsreferendarin in Visby. Schon damals hatte es an Geld gefehlt. Wie es jetzt um die Finanzlage stand, konnte sie sich kaum vorstellen. Aber bestimmt nicht besser, davon war sie überzeugt.
Nora ließ die Zeitung auf den Schoß sinken. Amtsgericht Stockholm. Wenn das kein Zeichen war.
Sie hatte den vagen Plan gehabt, einen Spaziergang durch die City zu machen und dann in irgendein Freibad zu gehen und ein bisschen zu schwimmen. Alles nur, um eine Weile allein zu sein und nicht nachdenken zu müssen.
Jetzt hatte sie eine andere Idee.
Die U-Bahn fuhr gerade in die Station T-Centralen ein. Rasch griff Nora nach ihrem Rucksack und stieg aus. Sie fuhr mit der Rolltreppe zur untersten Ebene, wo die Bahnen der blauen Linie hielten.
Sie hatte Glück. Sie war gerade unten angekommen, als eine Bahn einfuhr. Sie stieg ein und war nach wenigen Minuten an der Station Rådhus.
Als sie aus dem U-Bahnhof an die Oberfläche kam, türmte sich ein riesiges Backsteingebäude vor ihr auf: das Amtshaus, auch bekannt als Stockholms Amtsgericht.
Ein imposantes Gemäuer, in dem unzählige Prozesse der verschiedensten Art stattgefunden hatten. Hier war Clark Olofsson nach dem Geiseldrama vom Norrmalmstorg zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Der sogenannte Lasermann, einer der am schwersten zu fangenden Mörder der schwedischen Geschichte, hatte in diesen Sälen sein lebenslänglich bekommen. Und hier hatte ein uneiniges Gericht unter dem enormen Interesse der Öffentlichkeit Christer Pettersson für den Mord an Olof Palme verurteilt.
Aber es war auch ein Gebäude, das andere Behörden beherbergte. Zum Beispiel die Aufsichtsbehörde, die eine Menge Kontrollaufgaben zu erfüllen hatte. Wie etwa die Überwachung der Insolvenzverwalter. Hierher wurde die Vermögensübersicht jedes Konkurs gegangenen Unternehmens geschickt, ebenso der Verwaltungsbericht und der Rechenschaftsbericht über die Schritte, die im Namen des insolventen Betriebs unternommen wurden. Er wurde alle sechs Monate durch den Halbjahresbericht aktualisiert, der ebenfalls an die Aufsichtsbehörde ging.
Das meiste von dem, womit Juliander in den letzten Jahren beschäftigt gewesen war, würde sich also im Archiv dieser Behörde wiederfinden, dachte Nora. Zwar nicht in dem schönen alten Amtshaus, aber im Klamparen, wie der große Neubau aus den Neunzigerjahren genannt wurde, der an der Ecke Scheelegatan und Fleminggatan stand.
Nora hatte die Liste über Julianders Insolvenzfälle, die sie von Thomas bekommen hatte, am Morgen aus einem Impuls heraus in ihren Rucksack gesteckt, als sie aus Sandhamn weggefahren war. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie sich noch nicht um die Liste gekümmert hatte, und vorgehabt, auf der Fähre einen Blick darauf zu werfen.
Sie konnte sicher ein paar Stunden erübrigen, um sich durch die Akten zu kämpfen, die der verstorbene Anwalt an die Aufsichtsbehörde geschickt hatte. In ihrem Beruf als Justiziarin einer Bank hatte sie schon jede Menge Vermögensaufstellungen und Verwaltungsberichte gelesen, derartige Dokumente waren ihr nicht fremd.
Um ehrlich zu sein, sehnte sie sich nach einer Möglichkeit, den Kopf mit etwas anderem zu füllen als mit Gedanken an Henrik und den Verkauf der Brand’schen Villa. Auf Sandhamn hatte sie immer und immer wieder über die
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