Tod im Schärengarten
aber es konnte nicht schaden, durchblicken zu lassen, dass sie einen wirklichen Grund dafür hatte. Sie wusste genau, wie die Beamten über die Allgemeinheit dachten, die ihre Grundrechte wahrnehmen wollte. Ganz zu schweigen von den Journalisten, die regelmäßig aus Gründen des öffentlichen Interesses die Herausgabe von Akten forderten.
Eva-Britt Svensson warf einen Blick auf Noras ID – Karte und gab auf.
»Na ja«, sagte sie in versöhnlicherem Ton. »Dann versuchen wir mal, Ihnen zu helfen, so gut wir können.«
Nora schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
»Kann ich mich irgendwo hinsetzen?«, fragte sie und blickte sich um. Neben dem Empfangstresen stand ein Schreibtisch, der vermutlich für Besucher gedacht war.
»Eigentlich ist das nicht erlaubt, aber da es sich um so viel Material handelt, denke ich doch, dass Sie es hier drinnen durchsehen können.« Eva-Britt Svensson zeigte auf einen Nebenraum, der nicht besetzt war. »Wir bekommen nächsten Monat einen neuen Gerichtsreferendar, deshalb wird das Zimmer im Moment nicht benutzt.«
Nora lächelte freundlich, stellte den Rucksack auf den Boden und hängte ihre Jacke über den Stuhl.
»Das erinnert mich an meine eigene Referendarzeit in Visby«, sagte sie in dem Versuch, die Frau milde zu stimmen.
Mit dem gewünschten Resultat.
»Dann kennen Sie sich ja aus. Womit soll ich anfangen?«, fragte Eva-Britt entgegenkommend. Aber noch ehe Nora antworten konnte, hatte sie schon selbst einen Entschluss gefasst.
»Ich denke, ich bringe Ihnen die beiden jüngsten Vorgänge zuerst, die sind noch hier in der Abteilung. Es wird eine Weile dauern, bis ich die älteren aus dem Archiv geholt habe. Ich kann Ihnen nicht mehr als zwei Fälle zur Zeit herausgeben, aber das wissen Sie ja sicher.«
»Wie lange würde es dauern, die Akten zu kopieren?«, fragte Nora vorsichtig, um die Geduld der Frau nicht übermäßig zu strapazieren.
»Das kommt darauf an, wie viel Sie brauchen. Sie müssten sich aber selbst an den Kopierer stellen, wir haben leider keine Leute, um Ihnen zu helfen.«
Sie lächelte Nora an und verschwand.
Nora setzte sich an den Schreibtisch im freien Büro und holte Stift und Notizblock aus dem Rucksack. Das Fenster ging auf den Klarabergskanal hinaus, und beim Blick auf das üppige Grün an seinen Ufern musste sie unwillkürlich an zu Hause denken.
Was hoffte sie hier eigentlich zu finden?
Vielleicht war die ganze Aktion reine Zeitverschwendung. Aber versuchen wollte sie es. Unbedingt.
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Freitag, vierte Woche
Kapitel 69
Nora saß im 433er-Bus nach Stavsnäs. Sie hatte den restlichen Donnerstag und den Freitagvormittag im Amtsgericht verbracht. Erst nachdem sie alle Insolvenzfälle durchgesehen hatte, die auf Thomas’ Liste standen, hatte sie die Abteilung 6 verlassen.
Die ganzen Akten durchzulesen war, vorsichtig ausgedrückt, monoton. Die Verwaltungsberichte waren alle nach einem bestimmten Schema verfasst, ebenso die Halbjahresberichte.
Nach einer Weile hatte sie Pause gemacht, war in einen nahe gelegenen Supermarkt gegangen und hatte sich etwas zu essen und zu trinken gekauft. Ein Sandwich in Klarsichtfolie und ein Mineralwasser mit Himbeergeschmack mussten als Mittagessen reichen. Dazu nahm sie eine Tafel dunkle Schokolade ohne Zucker als kleine Zwischenmahlzeit mit.
Die trockenen Texte ließen ihre Augen tränen und sie musste sich zusammenreißen, um nicht ständig zu gähnen. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lesen. Es war, als geisterte etwas zwischen den Zeilen herum, was sie nicht richtig zu fassen bekam, wie ein Schmetterling, der sich im letzten Moment doch nicht fangen ließ. Also arbeitete sie sich weiter durch die langweiligen Akten und las einen Bericht nach dem anderen. Zum Trost belohnte sie sich nach jedem Schriftstück mit einem Stückchen Schokolade.
So verging Stunde um Stunde und der Stapel der durchgelesenen Akten wuchs. Da war nichts, was vom Normalen abwich oder sie stutzig machte. Trotzdem war sie überzeugt, dass da etwas sein musste, was sie nur noch nicht entdeckt hatte. Sie hatte es im Gefühl.
Die Nacht hatte sie in der Stadtwohnung ihrer Eltern und nicht in ihrem eigenen Haus verbracht, um Henrik nicht zu begegnen. Vorher war sie ins Kino gegangen, hatte sich eine schwedische Komödie angesehen und einen Riesenbecher Popcorn gegessen. Anschließend war ihr schlecht gewesen. Sie hatte noch den ganzen Abend den Geschmack des fettigen Popcorns im Mund gehabt.
In der Nacht hatte sie unruhig
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