Tod im Schärengarten
sich selbst überließ.
Wie bequem für ihn, dachte sie, als sie mit dem Telefon in der Hand dastand. Er verließ sich einfach darauf, dass sie sich um die Kinder kümmerte, wenn er nicht auftauchte. Ein kurzer Telefonanruf, und schon war er weg. Sollte seine Frau doch dafür sorgen, dass es der Familie gut ging.
Sein Gesicht hätte sie sehen mögen, wenn sie nach einem knappen Bescheid auf seiner Mailbox einfach ein ganzes Wochenende wegbliebe. Besonders in einer Situation wie dieser, bei der schon Ärger in der Luft lag, wenn sie einander nur sahen.
Warum war es ihre Aufgabe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, damit Adam und Simon nichts merkten? Warum musste sie sich eine Ausrede für Henriks Abwesenheit ausdenken?
Manchmal wünschte Nora, sie könnte sich auch auf diese Art eine Auszeit von der Familie nehmen: Ich bin weg, nach mir die Sintflut.
Aber sie könnte sich nie so verhalten, das wusste sie. Wenn sie Adam und Simon merken ließe, wie aufgebracht sie wirklich war, wären es die Jungs, die den Preis dafür zu zahlen hätten, und nicht sie selbst. Damit würde sie nur erreichen, dass das Grundvertrauen ihrer Söhne ins Wanken geriet, und das machte die Situation auch nicht besser. Also musste sie die Zähne zusammenbeißen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung.
Sie wünschte sich nur, dass Henrik eines Tages gezwungen sein würde, den Kindern Rede und Antwort zu stehen, anstatt sich einfach aus dem Staub zu machen, wenn es ihm passte.
Ein leises »Kacke« von Adam holte Nora aus ihren Grübeleien. Sie schickte ihrem wütenden Sohn einen strengen Blick, um ihn an sein Versprechen zu erinnern, sich zu beherrschen.
Adam presste die Lippen zusammen und sah zu Boden, und nach einer Weile entspannte sich sein magerer Körper und er ließ die Schultern sinken. Mit gerunzelter Stirn ging er langsam zum Abschlagplatz und machte sich bereit.
Zum Glück brauchte er nur zwei Schläge, dann hatte auch er den Ball versenkt. Für diesmal war die Krise abgewendet. Nora konnte aufatmen.
Während sie darauf wartete, dass die Jungs ihre Schläge auf der nächsten Bahn machten, einer schwierigen Variante mit Hindernis und Berg, wanderten ihre Gedanken zu den Dokumenten, die sie aus dem Amtsgericht mitgenommen hatte.
Sobald die Jungs am Freitagabend zu Bett gegangen waren, hatte sie sich mit einer Tasse Tee auf die Veranda gesetzt und die Fotokopien aus den Tragetaschen hervorgeholt. Dann hatte sie alle Papiere noch einmal langsam durchgeblättert.
Aber sie hatte immer noch nichts Ungewöhnliches finden können. Alles schien in Ordnung zu sein.
»Mama, du bist dran!«, rief Simon und holte sie aus ihren Gedanken.
Nora erhob sich von der Bank. Es war zwar nur eine Minigolfbahn, aber es war gar nicht so leicht, richtig zu treffen. Sie konzentrierte sich und versuchte, den Ball so gerade wie möglich durch die winzige Öffnung im Hindernis zu schicken.
Der erste Versuch ging völlig daneben. Beim zweiten Versuch sprang der Ball aus der Bahn, dafür gab es einen Strafschlag. Adam beobachtete vergnügt, wie sie sich abmühte, während Simon sie mit aufmunternden Zurufen anzufeuern versuchte. Es gab keinen Zweifel, welcher der beiden Jungs mit Wettkampfinstinkt geboren worden war. Es endete damit, dass sie all ihre Schläge verbrauchte, ohne den Ball durch die Öffnung zu bekommen. Sie notierte ihr Scheitern im Spielprotokoll und tröstete sich damit, dass man schließlich nicht in allem der Beste sein konnte.
Selbstverständlich schaffte Adam es, den Ball mit nur vier Schlägen ins Loch zu befördern. Nora hatte nichts dagegen. Ihr war es hundert Mal lieber, wenn er sich freute, als auf seine Kosten Triumphe zu feiern.
Sie setzte sich wieder auf die Bank und wartete, bis sie an der Reihe war. Die Gedanken wanderten zurück zu den Insolvenzfällen.
Die verschiedenen Akten von Julianders Konkursfirmen waren chronologisch geordnet gewesen. Gab es vielleicht noch eine andere Art, sie einzuteilen? Eine, bei der neue Muster entstanden?
Sie beschloss, die Insolvenzen jeweils einmal nach Branchen und nach Bearbeitungsdauer zu sortieren. Vielleicht konnte sie auf diese Weise eine Struktur erkennen, die sie bisher nicht gesehen hatte.
Heute Abend, wenn die Jungs eingeschlafen waren, würde sie das Material ein letztes Mal durchgehen. Wenn sie dann immer noch nichts fand, konnte sie es auch nicht ändern. Aber sie hatte auf jeden Fall ihr Bestes getan, um Thomas zu helfen.
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Sonntag, vierte Woche
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